55: Marthalen – Schaffhausen – Rheinfall – Rheinau – Marthalen

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Letztmalig breche ich mittels einer kleinen Extrarunde aus meinem Reiseplan aus. So lasse ich mich vom Postauto erst in die wunderschöne Stadt Schaffhausen bringen, dann zum gewaltigen Rheinfall, und schliesslich zum historischen Kloster Rheinau.

55: Marthalen – Schaffhausen – Rheinfall – Rheinau – Marthalen

 

 

Fahrt-Logbuch:

Linie Von Nach Bus BJ Halter Zeit KM
630 Marthalen, Bahnhof Schaffhausen, Bahnhof Solaris Urbino 12 2015 Rattin, Neuhausen 0:24 17,0
634 Schaffhausen, Bahnhof Schloss Laufen, Rheinfall Mercedes-Benz O530 Ü Citaro (facelift) 2013 Rattin, Neuhausen 0:24 9,1
Schloss Laufen, Rheinfall Rheinau, Unterstadt Schiff
620 Rheinau, Unterstadt Marthalen, Bahnhof MAN NL313 / A21 2002 Rapold, Rheinau 0:13 6,7

 

 

English Summary:

English Translation - click to view

Starting out in the village of Marthalen in the northern Zurich region I take a little detour that leads me even further north, to Switzerland’s northernmost canton. It shares its name with the region’s largest city, Schaffhausen, which is the destination of my first bus route (and also happens to be the northernmost stop in the whole PostBus network). Thanks to its location at a very shallow section of the river Rhine, Schaffhausen was a popular point for medieval merchants to cross the mighty river. In addition, goods shipped on the Rhine were often transferred to land-based means of transport at Schaffhausen’s port because the impressive Rhine Falls, located just a stone’s throw away, would block the thoroughfare.

All of this led to Schaffhausen becoming an important historic market place, whose wealth and influence were continuously growing – some of the intricately decorated façades in the pretty old town still attest to this. However, being located close to the border, Schaffhausen had always been eyed upon by many foreign powers, leading to an abundance of fortifications placed around the city which are a sight themselves. Most of all Schaffhausen’s landmark, its medieval Munot castle.

From Schaffhausen, another PostBus takes me a few kilometres downstream straight to the Rhine Falls, which are among the largest waterfalls in Europe. For almost an eternity I stand there, gazing down at this powerful display of nature, standing in awe of the thousands of tons of water that are raging right in front of me.

Finally, I decide to use my last joker and embark on a short river cruise. Not negotiating the Rhine falls of course, but leading further downstream through what they call the Rhine Amazonas to the picturesque village of Rheinau, which is dominated by the two large clocktowers of its former abbey. Here, another PostBus picks me up and takes me back to where I started – the village of Marthalen which I’ll be exploring in the next episode.

 

Die letzte Episode endete am Bahnhof des kleinen Dörfchens Marthalen, dessen hübsch aufgereihte Ansammlung von Postautos sogleich wieder mein Fernweh und meine Entdeckungslust befeuert. Bevor ich mich also auf die Socken mache, um das eigentlich selbst schon ausserordentlich hübsche Marthalen zu erkunden, kann ich nicht widerstehen und breche zu einer kleinen Extrarunde in Richtung Norden auf. Denn da gibt’s auch noch das eine oder andere Highlight zu sehen!

 

Neu gebauter Bahnhof Marthalen: Drei Postauto-Linien laden zu Entdeckungsreisen ein!
Neu gebauter Bahnhof Marthalen: Drei Postauto-Linien laden zu Entdeckungsreisen ein!

 

Und so hüpfe ich auf den Bus des fremden gelben Eindringlings, der sich mutig in den Kanton Zürich vorgepirscht hat und nun in Haltebucht A des Marthaler Bahnhofs zum Stehen gekommen ist: Ein Solaris Urbino 12 von Postautohalter Rattin aus Schaffhausen. Der Postauto-Traditionsbetrieb, dessen Gründer am 1. Januar 1927 mit zwei PTT-Strecken startete, besass einst ein weitreichendes Netz im nördlichen Kanton. Im Jahr 2003 zog sich Postauto allerdings aus dem Kanton Schaffhausen zurück und überliess die innerkantonalen Linien dem lokalen Verkehrsverbund (der allerdings auch wieder auf Rattin als Sub-Unternehmer zurückgriff). Übrig blieben für Rattin als Postauto-Unternehmer einzig zwei Linien in den Kanton Zürich. Die eine davon ist die 630, die ich nun befahre.

 

Ein Blick in die Geschichte von Postauto-Betreiber Rattin

 

Die alten Stahlkolosse sind natürlich längst Geschichte, auch wenn deren Aura mit dem supertiefen Nummernschild SH413 noch weiterlebt. Heute hängt dieses allerdings an einem profanen modernen Solaris Urbino 12, welcher mich nun in Richtung Rattins Stammlande in Schaffhausen entführt. Als erstes passieren wir auf dieser Strecke das Weinbauerndorf Benken, das am sonnigen Südhang eines Rebberges liegt und durch seine Kirche mit dem neugotischen Spitzturm von weither sichtbar ist.

 

Auf nach Schaffhausen!
Auf nach Schaffhausen!
Benken mit wuchtiger Kirche und seinen Weinhängen
Benken mit wuchtiger Kirche und seinen Weinhängen

 

Dem Hügelzug Cholfirst (welch blähender Name!) entlang bewegen wir uns weiter nordwärts, und erreichen wenige Minuten später bereits Schaffhausens südliche Agglomeration und die entsprechenden Einfallsachsen. Diese kanalisieren sich in der Ortschaft Feuerthalen am Südufer des Rheins (dessen Wohnquartiere wir auch noch extensiv befahren), bevor sie dann über die 19 Meter breite, flache Rheinbrücke auf Schaffhausen zuströmen. Schliesslich endet unsere Route wenige Minuten später am Bahnhof Schaffhausen – wenn ich nichts übersehen habe, die nördlichste Haltestelle im Postauto-Netz! Nur schon dafür hat sich der Abstecher ja gelohnt, denn somit habe ich immerhin drei der vier Extrempunkte des Netzes einsammeln können: Den südlichsten in Chiasso, den östlichen am Bahnhof Mals ausgangs des Val Müstair und nun eben hier den nördlichsten. Nur der westliche Aussenposten des Netzes ist mir durch die Lappen gegangen, dieser befände sich in einem Ortsteil von Nyon am Genfersee, wo Postauto den Ortsbusbetrieb schmeisst.

 

Willkommen!
Willkommen!

 

Kursfahrt mit Postkarten-Blick: Der Solaris Urbino 12 vor dem stolzen Munot in Schaffhausen (SH)
Gegenperspektive wenig später. Kursfahrt mit Postkarten-Blick: Der Rattin-Solaris vor dem stolzen Munot

 

Zurück nach Schaffhausen: Die soeben passierte Stelle im Rhein war auch für Schaffhausens Gründung und Entwicklung vital. Hier war der Rhein nämlich einst so flach, dass er mit Pferden passiert werden konnte. Dies bedeutete aber auch, dass hier – und spätestens dann beim Rheinfall wenige Kilometer flussabwärts – für die mit Gütern beladenen Schiffe kein Durchkommen mehr war. So mussten hier alle Waren auf Pferdegespanne umgeladen werden, was natürlich einen ganzen Fächer an Wirtschaftszweigen entstehen liess. Ebenso konnte Schaffhausen so beträchtliche Zolleinnahmen generieren und wurde gleichzeitig auch zu einem Marktplatz, an welchem nicht nur Güter umgeschlagen, sondern auch getauscht und verkauft wurden: Insbesondere der Handel mit aus Österreich und Bayern über den Bodensee hertransportiertem Salz florierte, aber auch die Textilien aus der Ostschweiz und die Weine aus den umliegenden Rebbergen wusste man zu exportieren. Und letztlich profitierte man auch noch von den reichen Fischgründen des Rheins selber.

 

Willkommen in Schaffhausen!
Willkommen in Schaffhausen!

 

Panorama von Schaffhausen mit seinem Wahrzeichen, dem Munot. Am Rhein stehen noch einige letzte Lagerhäuser, in denen auf dem Rhein transportierte Güter aufbewahrt wurden
Panorama von Rhein bis Munot. Im Vordergrund mit Treppengiebel der 1529 erbaute Schweizerhof, eines der letzten verbliebenen imposanten Lagerhäuser bei der historischen Schifflände. Hier wurde vor allem das auf dem Rhein transportierte Salz gelagert; Schaffhausen besass zeitweise das grösste Salzdepot der gesamten Eidgenossenschaft

 

Turmparade von Schaffhausen. Rechts derjenige der Kirche St. Johann, links davon der romanische Turm des Münsters zu Allerheiligen, erbaut um das Jahr 1200. Die zugehörige Benediktinerabtei war für die Geschicke und Erfolge der Stadt lange Zeit mitbestimmend
Turmparade von Schaffhausen. Rechts derjenige der Kirche St. Johann, links davon der romanische Turm des Münsters zu Allerheiligen, erbaut um das Jahr 1200. Die zugehörige Benediktinerabtei war für die Geschicke und Erfolge der Stadt lange Zeit mitbestimmend

 

Diese mannigfaltigen Perspektiven in der Stadt lockten immer mehr Kaufleute und Adlige an, welche sich bald mit repräsentativen Bauten in der Altstadt ein Denkmal zu setzen versuchten. So entstand ein Stadtkern voller prächtiger Bauten, geschmückt von Erkern und verzierten Fassaden. Und da Schaffhausen als Grenzstadt immer wieder im Zentrum von Interessenkonflikten stand, sind auch diverse Befestigungsanlagen zu beobachten – allen voran der Munot, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene Rundburg, welche längst zum Wahrzeichen der Stadt avanciert ist.

 

Aufstieg zum Munot: Die Festung wurde zwischen 1564 und 1589 von den Schaffhauser Bürgern in Fronarbeit errichtet
Aufstieg zum Munot: Die Festung wurde zwischen 1564 und 1589 von den Schaffhauser Bürgern in Fronarbeit errichtet

 

Blick auf Schaffhausens Altstadt. Aus dem Häusermeer ragt der 68 Meter hohe Turm der Kirche St. Johann empor, deren Geschichte etwa ins Jahr 1000 zurückreicht
Blick auf Schaffhausens Altstadt. Aus dem Häusermeer ragt der 68 Meter hohe Turm der Kirche St. Johann empor, deren Geschichte etwa ins Jahr 1000 zurückreicht

 

 

Der Obertorturm aus dem 13. Jahrhundert, der älteste verbliebene Teil der einstigen Stadtbefestigung. Gut 700 Jahre jünger ist Postautohalter Rattins Citaro!
Der Obertorturm aus dem 13. Jahrhundert, der älteste verbliebene Teil der einstigen Stadtbefestigung. Gut 700 Jahre jünger ist Postautohalter Rattins Citaro!
Das Schwabentor von 1361, der Abschluss der Stadtbefestigung gegen Norden - also eben gegen das Schwabenland
Das Schwabentor von 1361, der Abschluss der Stadtbefestigung gegen Norden – also eben gegen das Schwabenland
Früher eine wichtige Hauptachse: Durch die Vordergasse und am Obertorturm vorbei mussten alle Waren transportiert werden, die an der Schifflände vom seichten Rhein genommen und zur Weiterfahrt an den Rheinfall gekarrt werden mussten.
Früher eine wichtige Hauptachse: Durch die Vordergasse und am Obertorturm vorbei mussten alle Waren transportiert werden, die an der Schifflände vom seichten Rhein genommen und zur Weiterfahrt an den Rheinfall gekarrt wurden.

 

 

 

Erkerparade in der Vordergasse. Diese dienten als probates Mittel, um den erlangten Reichtum am eigenen Wohnhaus zur Schau zu stellen
Erkerparade in der Vordergasse. Die Erker dienten wie die Fassadenmalereien als probates Mittel, um den erlangten Reichtum am eigenen Wohnhaus zur Schau zu stellen

 

Haus zu den Drei Königen mit seiner Rokoko-Fassade (1746), davor wacht der Landsknecht auf einem Brunnen
Haus zu den Drei Königen mit seiner Rokoko-Fassade (1746), davor wacht der Landsknecht auf einem Brunnen

 

Das Haus zum goldenen Ochsen in der Vorstadt. Die einstige Herberge wurde 1608 in ein nobles Bürgerhaus umgebaut, wozu ihr auch eine prunkvolle spätgotische Fassade im Stil der Deutschen Renaissance spendiert wurden. Erker und Portal zeigen Szenen aus der babylonischen und griechischen Geschichte
Das Haus zum goldenen Ochsen in der Vorstadt. Die einstige Herberge wurde 1608 in ein nobles Bürgerhaus umgebaut, wozu ihr auch eine prunkvolle spätgotische Fassade im Stil der Deutschen Renaissance spendiert wurde. Erker und Portal zeigen Szenen aus der babylonischen und griechischen Geschichte

 

Das Haus zum grossen Käfig, 1371 am Ort des ehemaligen Gefängnisses erbaut. Auch seine Fassade erzählt eine ganze Geschichte!
Das Haus zum grossen Käfig, 1371 am Ort des ehemaligen Gefängnisses erbaut. Auch seine Fassade erzählt eine ganze Geschichte!

 

Fantastische Fassadenmalereien am Bürgerhaus "Zum Ritter". Das Haus wurde 1492 erbaut; die Verzierungen, welche als die bedeutendsten Renaissancefresken nördlich der Alpen gelten, wurden um das Jahr 1570 angebracht.
Fantastische Fassadenmalereien am Bürgerhaus “Zum Ritter”. Das Haus wurde 1492 erbaut; die Verzierungen, welche als die bedeutendsten Renaissancefresken nördlich der Alpen gelten, wurden um das Jahr 1570 angebracht.

 

 

Nach einem sehr lohnenswerten stündigen Spaziergang durch Schaffhausens Altstadt lauere ich Rattins Postauto bei der Rheinbrücke wieder auf, um auch noch seine andere Linie kennenzulernen. Die Nr. 634 zum Schloss Laufen am Rheinfall, der zweiten grossen Attraktion des Kantons. Befahren wird die Strecke von einem 2013er Citaro, und nummerntechnisch kann ich meinen Rekord sogar noch unterbieten: Die SH412 ist es, und damit die tiefste Nummer auf meiner ganzen Reise. Über was man nicht alles Statistiken führen kann 🙂

 

Postauto auf historischen Pfaden: Schon ab dem 13. Jahrhundert befand sich hier eine für die Entwicklung Schaffhausens zentrale Brücke
Auf historischen Pfaden kommt mein nächster Bus angerauscht: Schon ab dem 13. Jahrhundert befand sich hier eine für die Entwicklung Schaffhausens zentrale Brücke

 

Ahhh hier ist er ja: Dem Citaro im Wohnviertel abgepasst...
Ahhh hier ist er ja: Dem Citaro im Wohnviertel abgepasst…
...und damit in Richtung Rheinfall gerauscht. Hier bei der Anfahrt zum Bahnhof Dachsen
…und damit in Richtung Rheinfall gerauscht. Hier bei der Anfahrt zum Bahnhof Dachsen

 

Wie die Strecke zuvor dauert auch diese 24 Minuten, wobei ein Grossteil wieder für die Wohngebiete Feuerthalens draufgeht, die minutiös abgeklappert werden. Und kaum hat man dann die Agglomeration Schaffhausens wieder verlassen, setzt der Chauffeur schon den rechten Blinker und biegt auf den grosszügigen Carparkplatz des Schloss Laufen ab. Diese Burg war seit dem 9. Jahrhundert der Stammsitz der Freiherren von Laufen, welche als Vögte über die benachbarten Gemeinden herrschten. Ganz so nobel unterwegs ist das Schloss heute nicht mehr: Zwar lädt man auch zu Banketten, Seminaren und Hochzeiten im Rittersaal, gleichzeitig ist in den Kammern des mittelalterlichen Baus aber auch eine Jugendherberge einquartiert. Miefiger Schlafsaal also statt ritterlicher Tafelrunde, aber nun gut – möge der Spagat gelingen 🙂

 

Willkommen! Tretet ein ins Schloss!
Willkommen! Tretet ein ins Schloss!

 

Geschichte hautnah: Im einstigen Schloss Laufen unterwegs...
Geschichte hautnah: Im einstigen Schloss Laufen unterwegs…

 

...

 

 

Die wahre Attraktion wartet aber sowieso ausserhalb der Schlossmauern: Der Rheinfall, einer der drei wasserreichsten bzw. grössten Wasserfälle Europas, tost und stiebt in seiner einzigartigen Gewaltigkeit gleich nebenan vor sich hin. Die auf einer Breite von monumentalen 150 Metern über die Felskaskaden hinabstürzenden Wassermassen geben ein unglaublich imposantes Schauspiel ab, das einem augenblicklich mitreisst. So schrieb auch schon der deutsche Dichter Eduard Mörike im 19. Jahrhundert um Fassung ringend: «Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen! Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast. Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen, Ohr und Auge, wohin retten sie sich im Tumult?». Treffender kann man es nicht beschreiben!

 

Tosende Naturgewalt: Der Rheinfall am Fusse des Schloss Laufen (ZH)
Tosende Naturgewalt: Der Rheinfall am Fusse des Schloss Laufen

 

 

Der Rheinfall in seiner ganzen Pracht
Der Rheinfall in seiner ganzen Pracht

 

 

Vom Rheinfall gilt es nun zurück nach Marthalen zu gelangen. Eine direkte Postauto-Verbindung gibt es nicht, also besteht die einzige Möglichkeit darin, die ganze soeben bestrittene Strecke via Schaffhausen rückwärts zu befahren. Oder? Nicht ganz! Im Rheinbecken unterhalb der gigantischen Wasserfälle dümpeln nämlich die kleine Boote des lokalen Unternehmers “Schiffmändli” umher. Deren Brot und Butter ist es zwar, Horden von Touristen möglichst nahe an die stiebenden Wasser zu karren. Allerdings brechen sie mehrmals täglich auch zu längeren Fahrten auf und eine davon führt nach Rheinau. Rheinau, Rheinau – da war doch was? Genau! Rheinau ist auch der Heimatort des in Marthalen verkehrenden Postauto-Halters Rapold. Der brächte mich von Rheinau also bestimmt nach Marthalen zurück und würde somit den Kreis perfekt schliessen.

Das Schiffmändli-Boot, mein dritter Joker

Und so ist das eine wunderbare Gelegenheit, um den letzten meiner selbstgegebenen Joker einzusetzen, die es mir erlauben, auf drei Etappen das Postauto (oder die Wanderschuhe) durch ein anderes ungewöhnliches und sehenswertes Transportmittel zu ersetzen. Sehenswert verspricht die Bootsfahrt allemal zu werden, immerhin bewirbt die Ernst Mändli AG die Szenerie der Route als „rheinischen Amazonas“. So etwas Tropenfeeling mitten in Zentraleuropa kann ich jetzt gut gebrauchen – also nix wie los. Schiff ahoi und mögen die Piranhas nicht zu bissig sein!

Für einen ersten Adrenalinkick sorgt Bootsinhaber Mändli gleich nach dem Ablegen, als er seinen Kahn mit voller Fahrt voraus auf den Rheinfall zusteuert. Anders als die Titanic hundert Jahre vor uns endet das Manöver allerdings nicht in einem fatalen Rencontre, sondern die den Rheinfall hinabstürzende Strömung wird irgendwann so stark, dass sie das Kräftemessen gegen die Schiffsschraube mit Leichtigkeit gewinnt und uns einfach aus dem Weg bugsiert. Eindrücklich!

 

Mit vollem Schub dem Rheinfall entgegen…

 

Echt schön hier!

 

Touristen und tosende Wassermassen

 

Mit diesem Initialschub geht es fortan rheinabwärts, dem alten Handelsweg folgend, den über Jahrhunderte auch all die auf dem Fluss transportierten Güter genommen haben. Gleichzeitig ist es auch ein erhabenes Gefühl, nun selber auf den weitgereisten Wassern genau dieses Flusses dahinzugleiten, die mich seit mittlerweile rund 20 Etappen lose begleiten: Von ihrem Quellgebiet beim San Bernardino bin ich ihnen durch die Viamala-Schlucht gefolgt, habe sie dann bei Bad Ragaz wieder getroffen und mich gemeinsam mit ihnen durch ganz Liechtenstein gepflügt. Und nun bringen sie mich quasi nach Hause 🙂

 

Amazonaskreuzfahrt mit Schweizerfahne, so schön!

 

 

Die Musse zum Philosophieren kommt nicht von ungefähr: Tatsächlich ist die Fahrt auf dem breiten und zahmen Strom, umgeben von den dichten und unberührten Wäldern im scheinbaren Niemandsland zwischen der Schweiz und Deutschland äusserst entspannend! Der Vergleich mit dem Amazonas ist zugegebenermassen wirklich nicht so weit hergeholt! Ausser was die Dimensionen betrifft, denn nach nur guten 20 Minuten Fahrt baut sich mitten im nordzürcher Dschungel das massive Kloster Rheinau vor uns auf und markiert den Endpunkt der Fahrt. Zeit, auszusteigen und wieder auf die Strasse zu wechseln!

 

Kloster Rheinau

 

Schon von weither kündigten die wuchtigen zwei Türme des örtlichen Klosters, die mit ihrer Standfestigkeit dem sich stets in Bewegung befindlichen Fluss bewusst zu trotzen scheinen, unsere Ankunft im Örtchen Rheinau an, und nun stehe ich ihnen zu Füssen. Symbolbild für die Beständigkeit des Glaubens, in einer sich fortwährend verändernden Welt vielleicht – oder auch nicht.

So ganz konnte sich die Glaubensgemeinschaft dem Zahn der Zeit nämlich trotzdem nicht entziehen: Das im Jahr 778 gegründete Kloster, welches im Mittelalter einigen Einfluss genoss und auch die Entwicklung des Nachbarortes Marthalen nachhaltig prägte, wurde nämlich bereits 1862 wieder aufgehoben. Daraufhin war in den Gebäuden eine psychiatrische Klinik einquartiert, heute eine Gemeinschaft von Ordensschwestern und ein Musikzentrum.

 

Das wunderschön in einer Rheinschlaufe gelegene Klosterort Rheinau (ZH)
Rheinau im Panorama

 

Aus der Vogelperspektive zeigt das an einer Rheinschlaufe gelegene Rheinau erst seine ganze Pracht!

 

Leider bleibt mir nicht die Zeit, um das Kloster genauer zu inspizieren. Ich habe heute noch einiges vor, und entsprechend fällt auch meine Sightseeing-Runde im durchaus hübschen Rheinau ziemlich kurz und ziemlich sportlich aus. Dann biegt schon mein erhoffter nächster Reisebegleiter um die Ecke: Rapolds neuster Bus hat die Ehre, ein kürzlich abgelieferter MAN A21. Interessant dabei ist, dass die Rapolds nicht primär einen Postautobetrieb führen, sondern ein Restaurant in Rheinau. Dieses begann schon im Jahr 1869, einen ersten Postkutschenkurs zwischen Rheinau und Marthalen anzubieten – damals benötigte man für die 5 Kilometer noch 45 Minuten. Über Generationen wurden beide Betriebe vererbt und heute schmeisst die Frau das Restaurant, während der Gatte mit seinem Postauto über zwanzig Mal pro Tag zwischen Rheinau und Marthalen hin- und herpendelt (und seit einigen Jahren weiter nach Ossingen). Und auf der wohl etwa 754’414ten Tour auf dieser historischen Route schliesslich mit mir an Bord – yay!

 

Blick auf Rheinau mit seinen paar Patrizierhäusern und der Bergkapelle St. Nikolaus (1579)
Blick auf Rheinau mit seinen paar Patrizierhäusern und der Bergkapelle St. Nikolaus (1579)

 

Bereit zur Rückfahrt: Der MAN-Bus unter dem Waldkirch'schen Haus in Rheinau (ZH), einem schlossartigen Patrizierbau aus dem Jahr 1602
Bereit zur Rückfahrt: Der MAN-Bus unter dem Waldkirch’schen Haus, einem schlossartigen Patrizierbau aus dem Jahr 1602

 

Die Route dauert gerademal zehn Minuten – also quasi zweimal blinzeln, und schon ist man dort. Auf der Strecke passieren wir auch nicht viel Sehenswertes, dafür gefällt die Destination meinen Augen und der Kamera umso mehr: Der MAN-Bus lädt mich mitten im historischen Dorfkern von Marthalen aus, wo ich augenblicklich von einem Dutzend wundervoll herausgeputzter Häuschen im lokalen Fachwerk-Baustil umgeben bin. Genau für diese Architektur ist Marthalen berühmt. Doch ich glaube, für heute haben wir schon genügend Highlights abgeklappert – sparen wir uns das hübsche Marthalen also für die nächste Episode auf.

 

Adieu Rheinau: Blick durch die Poststrasse, am Wellenberg'schen Haus mit seinen Treppengiebeln (1551) vorbei zur Bergkirche
Adieu Rheinau: Blick durch die Poststrasse, am Wellenberg’schen Haus mit seinen Treppengiebeln (1551) vorbei zur Bergkirche
Unterwegs nach Marthalen...
Unterwegs nach Marthalen…

 

Das wunderschöne Marthalen (ZH) mit seinen prächtigen Fachwerkshäusern
Willkommen in Marthalen!

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