15: Veysonnaz und die Derborence

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Lesezeit: ca. 7 Minuten

Zur Krönung meines Sion-Aufenthaltes befahre ich nach einer kurzen Aufwärmrunde in den Ferienort Veysonnaz schliesslich noch eine der spektakulärsten und verrücktesten Strecken im Postauto-Netz: Die Derborence-Route, auf welcher sich das Postauto im Schritttempo durch winzige Tunnels quetscht und sich auf einem schmalen, ausgesetzten Strässchen eng an steile Felswände schmiegt, derweil auf der anderen Seite der Abgrund wartet.   

15: Veysonnaz und die Derborence

 

Fahrt-Logbuch:

Linie Von Nach Bus BJ Halter Zeit KM
363 Sion, Gare Veysonnaz, Station Irisbus Crossway 10.6m 2011 Regie 0:35 15,9
364 Veysonnaz, Poste Sion, Gare Irisbus Crossway 10.6m 2011 Regie 0:45 17,6
331 Sion, Gare Derborence Volvo 8700 10.8m 2001 Evéquoz, Erde 1:01 24,2
331 Derborence Sion, Gare Volvo 8700 10.8m 2001 Evéquoz, Erde 1:05 24,2

 

English Summary:

English Translation - click to view

 

I’m still lingering around Sion’s large Bus Terminal, looking for some more adventurous PostBus trips to take and some more winding mountain roads to explore. I start out with a quick roundtrip up to the resort town of Veysonnaz, which resides high above Sion on the southern slopes of the Rhone Valley. While the two half-hour rides are indeed pretty scenic and the views from up there quite spectacular, the Veysonnaz trip is really just the warm-up for what is about to come: Route 331 up to Lake Derborence.

This must be one of the craziest bus routes in the whole PostBus network, actually it even reminds me a bit of the infamous Camino de la Muerte, the “death road” in Bolivia. The Derborance road, which was built to ease the construction of a dam high up in this side valley in the 1950s, looks quite similar and is an equally amazing sight. In some parts it is directly carved into the vertical cliffs, in other parts it uses narrow tunnels to navigate through the unforgiving terrain.

While this is already spectacular in a normal-sized car, it becomes a real adventure when sitting in the 11 meter long PostBus. Extreme precision is needed on the driver’s part in order to navigate his grand vehicle along the narrow road, hugging the cliffs on one side and avoiding the steep abyss on the other while we progress at walking pace.

The hour-long panoramic drive alone is worth every drop of the driver’s sweat. But so is the destination: A beautiful mountain lake set amid an extensive primeval forest, both of which had been untouched for several centuries because after two devastating rockslides people all over the region considered them the home of the devil. It is quite the contrary in fact, an exceptionally charming and almost magical place. And definitely one of the best PostBus rides of my trip!

 

 

Aufwärm-Runde nach Veysonnaz

Am grossen Busbahnhof von Sion bin ich weiterhin auf der Suche nach lohnenswerten Postauto-Abenteuern. Nach dem in der letzten Episode behandelten Klassiker über den Sanetschpass steht im heutigen Beitrag ein weiteres Highlight an: Die Fahrt über die einzigartig enge und ausgesetzte Fels-Strecke der Derborence. Bevor es aber soweit ist, hüpfe ich quasi als Warm-up noch kurz auf der südlichen Talseite umher. Der hoch über Sion gelegene Ferienort Veysonnaz wird eigentlich von zwei verschiedenen Postauto-Linien erschlossen. Am Wochenende werden diese aber dankenswerterweise zusammengelegt, sodass man sich daraus eine wunderbare Rundtour mit prächtiger Aussicht basteln kann.

Ebenfalls nett: Es gibt gleich ein weiteres Novum für mein Logbuch: Ein Irisbus Crossway steht vor mir. Bei Irisbus handelt es sich um die Bus-Sparte des italienischen Herstellers Iveco, die allerdings im französischen Lyon beheimatet ist. Von dort wird der europäische Markt seit einigen Jahren mit Crossway-Bussen überschwemmt; günstiger als die deutschen Fabrikate sind sie natürlich, aber doch kraftvoll und ausgereift genug, um auch in den Bergen bestehen zu können. Ein Mix, der offenbar auch PostAuto ansprach: seit 2010 fungieren die Crossways als Modell für Bergstrecken im Beschaffungskatalog und werden nach anfänglicher Zurückhaltung auch entsprechend häufig geordert. Auch für mich wird der Crossway nun, da ich endgültig in den Berggebieten angekommen bin, zum häufigen Begleiter. Hoffen wir also, dass die Premiere glückt!

 

Der erste Crossway!
Ein Crossway am Busbahnhof von Sion. Der springende Delfin im Logo passt ja auch perfekt in die Alpen 🙂

 

Schnell haben wir die Hauptstadt des Wallis zurückgelassen und erklimmen am Südhang des Rhonetals die ersten Höhenmeter. Rechts unten liegt Sion, dessen eigentlich imposanter Burg-Berg mit zunehmender Höhe bald schon ziemlich unbedeutend wirkt. Immer neue Perspektiven eröffnen sich, es ist eine wahre Freude! Vor uns kommt schliesslich die an den Hang gebaute Siedlung Haute-Nendaz in Sicht, welche auf ihrer Sonnenterrasse die morgendliche Wärme geniesst.

 

Ganz schön enge Strassen für so ein grosses Postauto!
Ganz schön enge Strassen für so ein grosses Postauto!
Haute Nendaz
Haute-Nendaz
Chalet-Wahnsinn
Chalet-Wahnsinn
Blick hinunter ins Rhonetal
Blick hinunter ins Rhonetal

 

Doch nach Nendaz geht’s heute nicht. Wir zweigen nach Osten ab, durchqueren die Dörfer Brignon und Clèbes und gewinnen Haarnadel um Haarnadel stetig an Höhe, bis wir nach 35 Minuten schliesslich Veysonnaz erreicht haben. Während unten im Tal ein nächster Hitzetag anbricht, ist es hier oben auf gut 1‘300 Metern angenehm kühl und ruhig. Jetzt, in der Zwischensaison, ist hier nicht viel los. Im Café sitzen ein paar Frühaufsteher, jemand frühstückt auf dem Balkon seines gut ausgebauten Chalets, doch bis auf den kraftvollen Motor meines gelben französisch-italienischen Bergbusses stört niemand die friedliche Stimmung. Die Aussicht von hier oben ist wunderbar, und so schaffe ich es vor lauter In-die-Ferne-starren fast, mein eine halbe Stunde später aufkreuzendes Postauto für den Rückweg zu verpassen – ein nächster Crossway der Regie Sion.

 

Der Lohn für die Haarnadel-Kurverei: ein prächtiger Ausblick!
Der Lohn für die Haarnadel-Kurverei: ein prächtiger Ausblick!

 

 

Die Talfahrt ist dann nicht mehr ganz so spektakulär. Einerseits, weil mir jemand den Sitzplatz an der Frontscheibe weggeschnappt hat, andererseits auch weil ein beträchtlicher Teil der nun via Mayens-de-Sion und Les Agettes führenden Retourstrecke im Wald verläuft. Aber ich habe die Aussicht ja gehabt – und wie!

 

Postauto in Veysonnaz
Postauto in Veysonnaz

 

Königsdisziplin: Die Derborence

So aufgewärmt bin ich nun bereit für die ominöse Derborence. Ja, meine lieben Freunde: Es gibt sehenswerte Postauto-Strecken. Dann gibt es eindrückliche Bergpost-Strecken. Und dann gibt es noch die Derborence. Auch diese Route führt zu einem Stausee, und auch diese Route startet ab dem Bahnhof Sion. Doch der Weg, den sie befährt, spielt in einer ganz eigenen Liga! Für die spezielle Mission steht ein Volvo 8700 bereit, mein geliebter nordischer Kraftwürfel. Als Premiere sogar die auf 10,8 Meter verkürzte Version – denn in normaler Länge könnte er die nun folgende Strecke kaum bewältigen.

Die ersten paar Minuten sind noch unspektakulär, am Grund des Rhonetals klappern wir die Sittener Vorortsgemeinden ab. Dann steigt die Strecke erstmals an, und auf den engen Ortsdurchfahrten von Erde und Aven kann der Fahrer sein ganzes Können beweisen – oder besser gesagt, seine Steuerbewegungen richtig einölen, denn er wird sie noch brauchen.

 

:)
Auf geht’s in die Weinberge!
Auf geht's in die Weinberge!

 

Ein Crossway über dem Rhonetal
Ein Crossway über dem Rhonetal

 

Nach Aven steigt die Strecke nämlich steil empor, und verschwindet bald einmal in einem schattigen Seitental. Schmal ist die düstere Waldstrasse, aber das ist ja nichts neues mehr – offenbar auch für die vielen PKW, die uns in einem Affenzahn entgegengeschossen kommen, es aber stets irgendwie schaffen, rechtzeitig anzuhalten und dem grossen gelben Bus Platz zu machen.

 

Es beginnt spannend zu werden...
Es beginnt spannend zu werden…
Blick ins Rhonetal
Ein letzter Blick in Richtung Sion (und das am Gegenhang liegende Veysonnaz), bevor wir uns ins Seitental verabschieden

 

Das Herzstück der Derborence-Strecke folgt erst drei, vier Kilometer weiter. Hier wurde die Strasse, welche einst für den Bau des gleichnamigen Staudammes benötigt wurde, spektakulär in die vertikalen Felswände gehauen. Dafür musste alles aufgeboten werden, was im Ingenieurwesen irgendwie Rang und Namen hatte. Entstanden ist eine Strecke wie ein Emmentaler: durch unzählige naturbelassene Tunnels und Galerien schlängelt sich die Strasse langsam nach oben. Das ist schon ziemlich interessant, wenn man mit dem Auto hier durchfährt. Sitz man allerdings im vergleichsweise gigantischen Postauto, wird die Durchfahrt zur millimetergenauen Zirkelei. Diese bewältigen die Postautos bereits seit 60 Jahren, denn schon während der Bauphase ab 1951 wurden sie eingesetzt, um die Arbeiter in Richtung Derborence zu bringen. Jeweils um 9:30 Uhr verliess der gelbe Bus Sion, doch niemand wusste, wann er oben eintreffen würde – zu abenteuerlich war die Fahrt. So war der Chauffeur denn auch stets mit Pickel und Vorschlaghammer ausgestattet, um immer wieder Geröll wegzuräumen, welches während der Nacht auf die Strasse gefallen war.

 

Schwindelfreiheit ist auf der Derborence-Strecke Pflicht!
Wir nehmen die Derborence-Strecke in Angriff
Neckisches Mini-Tunnel
Neckisches Mini-Tunnel

 

Für Tunnelliebhaber gemacht: die Derborence-Strecke
Für Tunnelliebhaber gemacht: die Derborence-Strecke

 

 

1958 wurde die Postautostrecke dann öffentlich eingeweiht, doch auch seither musste immer wieder etwas Fels weggesprengt werden: vor allem, um Platz für die stets höher und breiter werdenden gelben Autobusse zu machen. Viel Marge gibt’s daher auch bis heute nicht, und obwohl wir in einem knapp 11 Meter kurzen Spezial-Postauto sitzen, kommen auch wir nur im Schritttempo voran. Dies ist aber ein Glück, denn so bleibt länger Zeit, dieses Meisterwerk Schweizer Strassenbaukunst zu bewundern und zu würdigen, und die vielen Ausblicke tief hinunter in die Schlucht zu geniessen. Nur die Ohren schmerzen, denn der Fahrer betätigt vor jeder engeren Kurve sein Posthorn – dabei ist ja eigentlich die ganze Strasse eine einzige Kurve, und eng sowieso. Ganze 24 Mal zähle ich das Düü-daa-doo!

 

Schwindelfreiheit Pflicht!
Schwindelfreiheit ist Pflicht!

 

Aussichtsreiche Fahrt zurück nach Sion
Aussichtsreiche Fahrten sind hier garantiert!

 

Der Stärkere hat Vortritt :-)
Der Stärkere hat Vortritt 🙂
Im Fels unterwegs
Im Fels unterwegs

 

Durch enge Tunnels der Derborence entgegen
Durch enge Tunnels der Derborence entgegen

 

 

Die Derborence-Route: in den Fels gehauen
Das Filetstück der Derborence-Route

 

Die Derborence-Route: in den Fels gehauen
Die Derborence-Route: in den Fels gehauen

 

 

Nach Passieren dieses Herzstücks wird die Strecke wieder etwas normaler. Verdammt schmal bleibt das Strässchen zwar noch immer, aber es führt nun in vielen Kurven durch liebliche Arven- und Tannenwälder, welche eine ausgedehnte Geröllhalde bewuchern, nach oben. Entscheidend gezeichnet wurde diese etwas verträumt-magisch anmutende Landschaft durch einen verheerenden Felssturz von 1714: 15 Menschen, 55 Alphütten und hunderte Tiere wurden damals in den Tod gerissen, als 50 Millionen Kubikmeter Fels ins Tal donnerten. Als sich 30 Jahre danach ein weiterer schlimmer Felssturz ereignete, hielten die Einheimischen das Derborence-Tal endgültig für einen verwunschen Spielplatz des Teufels (so kam übrigens auch die Bergkette Les Diablerets zu ihrem Namen), kehrten ihm den Rücken und mieden es fortan. So konnte sich hier, auf 1‘500 Metern über Meer, die junge Flora fast ungestört entwickeln. Entstanden ist so um den beim Felssturz aufgestauten Lac Derborence ein richtiger Urwald (der heisst offiziell so!),  welcher viel zum leicht verwunschenen Charme dieser Gegend beiträgt.

 

Schmale Strassen hier!
Schmale Strassen hier!
Blick ins abgelegene Derborence-Tal
Blick ins abgelegene Derborence-Tal

 

Im einstigen Schuttkegel unterwegs
Im einstigen Schuttkegel unterwegs
Les Diablerets in Sicht - und die Strasse gerade breit genug :-)
Les Diablerets in Sicht – und die Strasse gerade breit genug 🙂

 

Auf dem schmalen Urwald-Strässchen fühlt sich der Fahrer wie zuhause. Kein Wunder, schliesslich befindet sich die Strecke schon seit ihrer Erbauung im Portfolio von Postauto-Unternehmer Evéquoz aus dem Dorf Erde. Bereits 1913 verband dieser seine Heimat mittels einer Kutsche mit Sion. 1934 erlangte er schliesslich die Konzession für einen motorisierten Postauto-Betrieb. Wie die schön gemachte Geschichts-Sektion seiner Webseite verrät, wurden Evéquoz’ Postautos in den darauffolgenden Jahren gar von den lokalen Bauern als Last-Transporter verwendet, um Wasser und Gerätschaften in die steilen Weinberge der Region zu schleppen, nachdem alle Pferde und Maultiere in den Kriegsdienst eingezogen worden waren. Nach Kriegsende durften die Postautos dann aber wieder ihrer eigentlichen Berufung nachkommen, und seit 1958 verkehren sie eben auch zur Derborence.

 

Einblick in die Geschichte von Postauto-Pionier Evéquoz. Bilder: www.autocars-evequoz.ch

 

Auch heute arbeitet sich der Volvo zielsicher und zuverlässig die Höhenmeter hoch und zweigt dann erst zum künstlich gestauten Lac Godey ab, bevor er schliesslich den grösseren See namens Derborence ansteuert.

 

Auf schmalen Pfaden unterwegs
Auf schmalen Pfaden unterwegs

 

 

Aussicht von der Staumauer des Lac de Godey VS
Aussicht von der Staumauer des Lac de Godey

 

Stausee Lac Godey
Stausee Lac Godey

 

Eine Stunde nach der Abfahrt im geschäftigen Sion ist mit dem Ziel Derborence ein veritables Idyll erreicht. Für die letzten hundert Meter biegt das Postauto auf eine holprige Naturstrasse ab, quert einen letzten Geröllkegel, und kommt vor dem wunderschön gelegenen Endziel zum Stehen: dem pittoresken Bergsee inmitten dichter Nadelwälder, umrahmt von weiss gekrönten Gipfeln. Und nach etwas gutem Zureden erklärt sich der See gar bereit, auf seiner glatten Oberfläche die umliegende Landschaft zu spiegeln.

Erst hier, am Ende der Fahrt verrät mir der Chauffeur, dass er erst für diese Sommersaison auf die Derborence-Route gewechselt habe und die Strecke heute zum ersten Mal alleine ohne Instruktor gefahren sei. Falls es stimmt, hat er das Gesellenstück damit definitiv abgeliefert – und sonst einfach eine weitere Legende, von denen sich so viele um die Derborence ranken.

 

Ankunft in Derborence, am Fusse der Les Diablerets
Ankunft in Derborence, am Fusse der Les Diablerets

 

Verschnaufpause nach der Bergfahrt
Verschnaufpause nach der Bergfahrt

 

Was für ein wunderbarer Bergsee!
Was für ein wunderbarer Bergsee!

 

Las Derborence, VS
Lac Derborence

 

Wunderschön ist's hier oben!
Wunderschön ist’s hier oben!

4 Responses

  1. jakob schluep
    | Reply

    eindrücklich

    • Tis
      | Reply

      Dankesehr!

  2. Ueli Zwingli
    | Reply

    Eine geniale Fotoreportage mit perfekten Bildern einer schmalen Bergstrasse in einer herrlichen Landschaft. Du hast ein Meisterwerk geschaffen, meinen Respekt und meine Anerkennung hast du!

    • Tis
      | Reply

      Vielen herzlichen Dank Ueli für den lieben Kommentar. Es freut mich sehr, dass dir diese Episode so gut gefallen hat!

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