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Zuerst bringt mich das Postauto ins abgelegene Onsernone-Tal. Dort zeigt sich die wilde Natur fast unberührt, nur ein paar Terrassendörfer schmiegen sich an die steilen und dicht bewaldeten Hänge. Als totaler Kontrast geht es daraufhin ins mondäne Ascona und über den tiefblauen Lago Maggiore hinweg neuen Ufern entgegen.
29: Onsernonetal – Ascona – Magadino
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
324 | Locarno, Stazione | Russo | Scania/Hess K320UB 9,7m | 2012 | Starnini, Tenero | 0:46 | 22,0 |
325 | Russo | Gresso | MAN/Göppel 14.290HOCL / A66 | 2010 | Starnini, Tenero | 0:11 | 4,0 |
325 | Vergeletto | Russo | MAN/Göppel 14.290HOCL / A66 | 2010 | Starnini, Tenero | 0:22 | 7,0 |
324 | Russo | Losone, Ponte Maggia | Scania/Hess K320UB 9,7m | 2012 | Starnini, Tenero | 0:39 | 19,0 |
– | Ascona | Magadino, Debarcadero | Schiff | – | – | – | – |
English Summary:
After I visited the breathtaking, if a bit touristy valley of Verzasca in the last episode, things get even more natural and down-to-earth in the next valley I let the PostBus take me to, the secluded Onsernone. A small mountain bus takes me on the treacherous and exposed road that is winding its way through the dense forest that resembles a jungle quite a bit. Civilization is sparse in this poor region, whose largest share of inhabitants have long left it behind in search for work and wealth abroad. Most of the valley’s few small villages are on the brink of becoming deserted, clinging to the steep valley slopes and hanging on for dear life. But while everything here breathes an air of wildness and slight decrepitude, this unique setting in combination with the virtually untouched natural beauty somehow also evokes an enchanting fascination.
The contrast couldn’t be bigger as I return to civilization and the PostBus eventually drops me off in the glamorous lakeside resort town of Ascona. After strolling through its charming cobblestone streets and admiring its views of Lago Maggiore lake, I all but dread the continuation of my trip, as my itinerary lists a boring 90-minute walk through the Maggia plains to get to my next PostBus stop in Magadino. In view of this, I decide to add a new rule to my trip: To make things a bit more entertaining both for myself as well as for you, my dear readers, I present myself with a set of three jokers that allow me to swap a hike for a more interesting means of transport (which still excludes trains, non-postal busses and cars of course). And I instantly make use of my first joker in today’s episode by hopping onto one of the many ships that cruise the blue waters of the Lago Maggiore. In a scenic two-hour cruise, it takes me around a big part of the lake, even briefly into Italian waters near Luino, and then drops me at Magadino where the next PostBus is already waiting.
Es ist eines der westlichsten und abgelegensten Täler des Tessins. Und eines der ärmsten. Seine Bewohner sind einst in Scharen davongestürmt, weil es im Onsernone einfach nichts gab, was ein Überleben ermöglicht hätte. Ausser Millionen von Kastanienbäumen, aber auch die besten Marroni hat man irgendwann einmal satt. Übrig geblieben ist ein spärlich besiedeltes, dicht bewaldetes Einod. Die wenigen kleinen Dörfchen, die sich halb verlassen an den steilen Hängen festkrallen und auf bessere Zeiten hoffen, kann man an fast einer Hand abzählen. Dafür demonstriere die Natur hier eine unbändige Kraft, bilanzierte kürzlich der “Spiegel”, der das Onsernone zur “schönsten Sackgasse Europas” kürte. Sonst gibt’s hier aber nicht viel zu sehen, auch das gefällt dem “Spiegel”-Autor: “Freiheit ist kein abstrakter Begriff mehr. Das Tal fordert und verlangt nichts: keine Sehenswürdigkeiten, die man abhaken muss, keine Seilbahnen, die einen zu hoch gelegenen Gletschern schleppen wollen, keine aufdringliche Folklore.”
Dieses Abgeschiedene und Profane zog allerdings in der Vergangenheit auch eine Vielzahl an Künstlern und Literaten an: Kurt Tucholsky war hier, Golo Mann ebenso. Alfred Andersch und Max Frisch, die beide jahrelang hier wohnten, trampelten sich im kleinen Dörfchen Berzona gar so lange auf den Füssen herum, dass ihre Freundschaft nachhaltig abkühlte. Frisch suchte und fand im Onsernone “einen Ort ausserhalb von allem”, und diese wilde Atmosphäre ist bis heute geblieben. Ein Highlight gibt es aber: Das Postauto, das fünfmal täglich von Locarno hier hochfährt, und als Lebensader am Leben hält, was schon halb scheintot wirkt. Kommt ihr mit? Auf los geht’s los!
Genauso abenteuerlich wie das Onsernone selbst präsentiert sich auch die Strecke. Eng, verwinkelt, abgelegen, oft in die dicht bewaldeten Steilhänge gehauen, führt sie etwa auf halber Höhe immer tiefer in das einsame Tal hinein. Schlaglöcher gibt’s hier alle paar Meter, Brückengeländer und Leitplanken rosten – wo überhaupt vorhanden – fröhlich vor sich hin. Hinter ihnen warten hunderte Meter freien Falls, bis hinunter in den vor lauter Bäumen kaum sichtbaren Talboden.
Eine Strecke, auf der man sich vorsichtig von Kurve zu Kurve pirscht also? Keineswegs! Der Fahrer (der Begriff „Chauffeur“ klänge für dieses Abbild eines rüden Knastbruders, komplett mit dunklem Schnauzer und grossflächigen Tätowierungen, doch etwas zu gehoben) peitscht seinen kleinen Hess-Bergbus in einem Affenzahn über die schmale Strasse. Zehnmal betätigt er das Posthorn, als er in Schumi-Manier auf unübersichtliche Kurven zubraust – wohl weniger mit der Absicht, entgegenkommende Autofahrer zu warnen, sondern eher im Stil nepalesischer Taxifahrer, welche sich den Weg einfach freitröten. Mehr als einmal verhindert diese laute Warnung erfolgreich einen heftigen Zusammenstoss, weil der Gegenverkehr in letzter Sekunde ausweicht und/oder abrupt in die Eisen steigt. Die Freundin blickt mich derweil von akuter Kollisionsangst getrieben wutschnaubend an – der gefahrenreiche Höllenritt durchs dunkel bewölkte Seitental hat mit dem von mir angepriesenen Weekend im sonnenverwöhnten Postkarten-Tessin aber auch wirklich wenig gemein. Trotzdem: Mir gefällt’s!
Nach einer 40-minütigen Schaukelfahrt erreichen wir das Dörfchen Russo; einige Steinbögen am Dorfplatz und ein weitherum sichtbarer Kirchturm sind seine einzigen Attraktionen. An dieser Stelle verzweigt sich das abgelegene Tal, weshalb sich auch der Postautokurs hier aufteilt. Die Hauptlinie führt noch etwas weiter ins Onsernone-Tal hinein bis zu dessen gleichnamigem Hauptort. Ein zweiter Bus biegt ab ins Seitental Vergeletto. Ich mache die einfache Rechnung, dass das Seitental eines selbst schon abgeschiedenen Tals wohl noch etwas ursprünglicher, noch etwas abenteuerlicher sein würde, und steige deshalb ebenfalls um.
Die Strassen sind im Vergeletto-Tal dann tatsächlich noch einen Tick schmaler, die Kurven noch etwas enger. Mehr als einmal kann der Fahrer sein Gefährt nur noch in gemässigtem Schritttempo um den Scheitel bugsieren. Immerhin fährt dieser Kollege hier im Vergleich zu seinem Vorgänger anständig und vorsichtig – so, wie es sich hier im gefühlten Urwald mit seinen tausend Gefahren gehört. Die Abzweigung zum Dorf Gresso ist dann aber so eng, dass auch er seinen Bus mitten auf der Hauptstrasse querstellen, und mittels einigem Vor- und Zurückmanövrieren auf der Stelle wenden muss.
Dann noch ein paar enge Haarnadeln, und schon sind wir oben angekommen: in Vergeletto mit seinen knapp 60 Einwohnern. Viel zu sehen und erleben gibt’s hier nicht. Eine schöne Mühle am Bergbach (zur Blütezeit waren es noch fünf gewesen), zwei drei gut erhaltene Rustici. Sonst gammelt das meiste vor sich hin, auch Einwohner treffen wir kaum welche an. Doch trotz dieser allgemein eher deprimierenden Aura des Verlassenen und Verfallenen: Als ich so den dicht bewaldeten Hängen entlang zu Tal blicke und die Szenerie nach einem sommerlichen Regenfall mystisch vor sich hindampft, ist da schon etwas zu spüren von der im “Spiegel” beschriebenen Kraft der Natur.
Für einen ohnehin etwas öden Regentag war’s so eigentlich ein ziemlich netter Abstecher in diese fast vergessene, vielleicht etwas verwunschene, aber dadurch auch irgendwie anziehende Ecke der Schweiz. Zudem fand ein neues Postauto den Weg in mein Logbuch: der Scania/Hess K320UB 9.7m, besser bekannt als Hess Bergbus – und damit auch das erste quasi Schweizer Fabrikat auf meiner langen Busliste. Auf einem Chassis des schwedischen Nutzfahrzeugherstellers Scania baut nämlich die Carosserie Hess AG aus Solothurn diverse Spezialbusse, und der knuffige Bergbus ist genau ein solcher: 9,7 Meter Länge, dabei aber doch stattliche 2,38 Meter Breite, niederflurig und mit Platz für ansehnliche 35 Sitzplätze. Äusserst wendig ist der Kleine, und da sein Antriebsstrang von einem grösseren 12-Meter-Bus stammt, auch ordentlich motorisiert. Die perfekte Wahl also für diese fordernde Strasse!
Gelangt man aus dem armen, wilden Onernonetal ins mondäne Ferienstädtchen Ascona, könnte der Kontrast kaum riesiger sein. Der Ort empfängt einem bunt, festlich, herausgeputzt und mit einem total internationalen Flair. Kein Wunder: Das einstige Fischerdorf vollzog früh eine Transformation zum beliebten Refugium für Gäste aus ganz Europa: zwischen 1900 und 1920 siedelten sich auf dem nahen Monte Verità Aussteigerkolonien an, während der Nazi-Zeit suchten besonders viele deutsche Flüchtlinge hier Schutz, später war ein Influx an Ferienhäuschenbesitzern zu verzeichnen. Auch heute noch beherbergt die Ortschaft mit ihren rund 5‘000 Einwohnern in der Sommersaison bis zu 25‘000 Feriengäste. So strahlt Ascona einen Hauch von Internationalität aus, eine gewisse Losgelöstheit vom rigiden Alltagstrott, und bezaubert dank der charmanten engen Gässchen, der farbenfrohen Häuser und der einladenden Flanier- und Restaurantmeile direkt am See mit einem stetigen Feriengefühl.
Von diesem Feriengefühl lasse auch ich mich anstecken. Mein Programm sähe nämlich eigentlich vor, jetzt mit dem Postauto bis nach Tenero zurückzusetzen, und von dort über eine Stunde auf der Kantonsstrasse quer durchs nicht allzu vielversprechend aussehende Maggiadelta an den Startpunkt meiner nächsten Postautoroute zu wandern. Wirklich spannend hört sich das nicht an, weder für mich selbst, noch für euch, liebe Leser. Also beschliesse ich kurzerhand, dass ich mir für meine Schweiz-Tour drei Joker gewähre. Züge und fremde Busunternehmen bleiben natürlich nach wie vor tabu, aber ich will es mir erlauben, in drei Etappen sporadisch andere nette Verkehrsmittel einzusetzen. Ab Ascona bietet sich dafür die perfekte Gelegenheit: Kaum etwas liegt hier näher als das einladend blaue Wasser des Lago Maggiore, und mit ihm die unter italienischer Flagge laufenden Kursschiffe, welche den See täglich befahren. Leinen los und Schiff ahoi also!
Das leichte Schummeln bereue ich in keinem Moment. Schon kurz nach dem Ablegen offenbart sich von hier draussen ein wunderschöner Blick zurück auf Ascona (diesmal mit Sonnenschein). Auch danach entfalten sich vor meinem Auge prächtige Panoramen, während ich für einmal die Füsse hochlagern und mich vom stetigen Fahrtwind kühlen lassen kann. Kurz steuern wir Brissago an; das pittoreske Kleinod am Fusse steil abfallender Hänge heisst uns mit seiner Renaissancekirche San Pietro e Paulo, weiteren erhabenen Altbauten sowie einer üppig grünen Seepromenade aus Palmen und Zypressen willkommen. Dann folgt gar noch ein Schlenker in italienische Gewässer, mit Ausblicken auf die eng zusammengepferchten Altstadthäuschen von Cannobio sowie den etwas verblassten Charme des Hafens von Luino.
Zurück im Schweizer Teil des Lago Maggiore nimmt unser Schiff die steilen bewaldeten Hänge seiner Nordostflanke ins Visier – quasi aus dem Nichts scheinen hier veritable Berge emporzusteigen und in den Gipfeln des Monte Gambarogno und Monte Tamaro zu kulminieren. Und nicht nur das: verheissungsvoll glitzert durchs dichte Blätterdach vor uns ab und zu eine steile und kurvenreiche Bergstrasse hervor, ja ich glaube gar kurz, im dichten Wald ein kleines Postauto vorbeihuschen zu sehen: Den Kurs ins abgelegene Bergdorf Indemini. Und genau mit diesem geht’s in der nächsten Episode weiter 🙂
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