30: Magadino – Indemini – Monte Tamaro – Rivera

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Vielfältige Tessiner Lebensfreuden in einer einzigen Etappe: Erst geniesse ich eine Schifffahrt über den Lago Maggiore, lasse mich dann vom Postauto auf einer kurvenreichen Bergstrecke ins abgeschiedene aber wunderschöne Steindorf Indemini bringen, und starte schliesslich zu einer aussichtsreichen Höhenwanderung über den Monte Tamaro.        

30: Magadino – Indemini – Monte Tamaro – Rivera

 

 

Fahrt-Logbuch:

Linie Von Nach Bus BJ Halter Zeit KM
Ascona Magadino, Debarcadero Schiff
326 Magadino, Debarcadero Indemini, Paese Cacciamali Thesi 65C18 2005 Domenighetti, Indemini 0:57 25,0
326 Indemini, Paese Alpe Neggia Cacciamali Thesi 65C18 2005 Domenighetti, Indemini 0:15 4,0
Alpe Neggia Alpe Foppa Zu Fuss 2:12 7,0
Alpe Foppa Rivera, Caslaccio Seilbahn 0:15 2,3

 

English Summary:

English Translation - click to view

The last episode just finished as the Lago Maggiore ship delivered me to the small town of Magadino on the shores of the Lago Maggiore lake, where my next post bus was already waiting.

Eventually, the small Italian-made Cacciamali minibus embarks on an hour-long trip up the hillside, where a narrow little mountain road zig-zags its way up from 200 meters to 1400 meters above sea level. Apparently, it encompasses no less than 254 curves, 37 of which are true hairpin bends. This makes for a very interesting journey up to the pass at Alpe Neggia and then down to the almost forgotten village of Indemini just a stone’s throw from the Italian border.

The former smuggler’s nest has become an extremely tranquil and peaceful haven over the last hundred years, a place so far off the map and off the beaten track that it almost lets you forget the world around you. And while you’re doing so, Indemini mesmerizes you with its perplexing labyrinth of cobblestone alleyways, its abundance of rural stone cottages and the ubiquitous works of its passionate, artsy inhabitants. What a treasure!

After a very relaxing night in Indemini, the PostBus takes me back up to Alpe Neggia the next morning, from where I start a hike along an old military trail over Mount Tamaro to Alpe Foppa, frequently stopping to savour the breathtaking panoramic views enroute. Finally, profiting from the last ripples of my used joker, I hop on a cable-car down to Rivera, from where the PostBusses will again take over in the next episode.

 

Die letzte Episode endete auf dem Schiff, das mich von Ascona in einem weiten Bogen ans Ostufer des Lago Maggiore brachte. Vor uns kommt nun langsam mein Ziel in Sicht: die Anlegestelle Magadino, wo ich aufs nächste Postauto hüpfen kann. Einige Schiffspassagiere haben offenbar dieselbe Tagesdestination wie ich, das Steindorf Indemini. Beängstigt blicken sie hinüber an den bewaldeten Steilhang, und ihre Augen fragen unsicher: „Da hoch?“. Ja, genau da hoch will ich – und zwar mit dem Postauto!

 

Ankunft in Magadino
Ankunft in Magadino

 

 

Schon wenige Minuten nachdem wir wieder festen Boden unter den Füssen haben, kommt das Postauto auch gleich angedüst. Es handelt sich um einen Thesi 65C18 aus dem Hause Cacciamali – schon wieder ein neues Fabrikat für mein Logbuch, und erst noch ein italienisches. Perfekt!

 

Er bringt mich nach Indemini: Der Cacciamali Thesi
Er bringt mich nach Indemini: Der Cacciamali Thesi

 

Rasch nehmen ein paar Einheimische, welche hier unten im Tal Besorgungen erledigt haben im Bus Platz, auch ein paar leicht nervöse Touristen gesellen sich dazu. Dann schliesst der Fahrer die Türen, und los geht die Reise in die Höhe. Die ersten Minuten gestalten sich noch einigermassen normal, wir durchfahren ein terrassiertes Villenviertel mit besten Ausblicken in Richtung Locarno. Die üppigen grünen Sichtschutz-Hecken engen die Strasse hier zwar teilweise auch schon ein, doch das ist nichts gegen das, was noch kommt.

 

Prächtige Aussicht während der Bergfahrt
Prächtige Aussicht während der Bergfahrt

 

Wenig oberhalb des Dörfchens Fosano verschwindet die Strasse nämlich im dichten Kastanienwald und das eigentliche Herzstück der Fahrt beginnt. Als sei sie von einer wildgewordenen Nähmaschine in die Topographie gefräst worden, arbeitet sich die Strasse ab hier in einem chaotischen Zickzackmuster den steilen Berghang empor. 254 Kurven sollen es sein, stattliche 37 davon enge Haarnadeln, welche der Bus nur äusserst knapp bewältigen kann. Gerade übermotorisiert scheint der gute Cacciamali auch nicht zu sein, andererseits erlaubt auch die enge und unübersichtliche Strasse eh keine hohen Fahrtempi. Mit entsprechend stoischer Gleichmässigkeit ackern wir uns so eine Haarnadel um die andere den Berg hoch, während der Fahrer virtuos auf der Klaviatur von Gaspedal, Kupplung und Schalthebel spielt um uns trotz ständig änderndem Steigungsprofil möglichst gleichmässig in Bewegung zu halten.

 

Flüchtiger Blick hinüber auf Locarno und Ascona
Flüchtiger Blick hinüber auf Locarno und Ascona

 

 

Auf der steilen Waldstrasse nach Indemini...
Auf der steilen Waldstrasse nach Indemini…

 

Der Chauffeur gehört zum Team von Fuhrhalter Domenighetti aus Indemini, der nicht nur das Postauto betreibt, sondern auch die lokale Müllabfuhr und so etwa alle anderen strassenbasierten Tätigkeiten des kleinen abgelegenen Bergdorfes nahe der italienischen Grenze. Patron Fausto Domenighetti selber, der heute leider nicht hinter dem Steuer sitzt, schmeisst das kleine Dorf ohnehin quasi im Alleingang: Morgens früh bringt er die ersten Wegpendler ins Tal, holt dort die tägliche Post ab und verteilt diese nach der Rückkehr in sein Indemini auch gleich höchstpersönlich. Gleichzeitig entnimmt er den Milchkästen der Einwohner Geld, das er nach seiner nächsten Talfahrt unten in der Zivilisation auf Post und Bank für sie einbezahlt. Hat er sein Fahrpensum dann erfüllt, schwingt er sich am Abend noch in die Küche seines Restaurants „Grotto Indeminese“, welches er zusammen mit seiner Frau betreibt. Ein echter Tausendsassa also – da verwundert es nicht, dass er auch lange Jahre Gemeindepräsident der kleinen Ortschaft war. Sogar das Migros-Magazin hat ihm einen Artikel gewidmet, dem „Postillon von Indemini“!

 

Die Strasse kennt nur eine Richtung: nach oben!
Die Strasse kennt nur eine Richtung: nach oben!

 

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Mittlerweile haben wir schon eine halbe Stunde Zickzack den Berg hinauf hinter uns, doch erreicht haben wir das Refugium Indemini noch immer nicht. Die Gesichter einiger Touristen werden derweil blasser und blasser – im Einklang mit den Knöcheln ihrer Finger, die sich angesichts der schmalen und steilen Strasse immer vehementer in den Vordersitz krallen. Die Fahrkünste unseres erfahrenen Chauffeurs sind nicht das Problem; aber wenn man im Kopf hat, wie rasant die Tessiner Autofahrer ansonsten so unterwegs sind, wähnt man in jedem um eine unübersichtliche Kurve räubernden Gegenverkehr ein potentielles Todesgeschoss. Immerhin kommt nun der höchste Punkt der Route in Sicht, die Alpe Neggia, 1’400 Meter über Meer – und beachtliche 1‘200 Höhenmeter über dem Lago Maggiore!

 

Ankunft auf der Alpe Neggia mit Blick Richtung Italien
Ankunft auf der Alpe Neggia mit Blick Richtung Italien
Die letzten Kilometer bis Indemini sind besonders anspruchsvoll zu fahren...
Die letzten Kilometer bis Indemini sind besonders anspruchsvoll zu fahren…

 

Von hier aus folgt ein letzter Abstieg in Richtung Indemini. 400 Höhenmeter müssen wieder vernichtet werden, während unser auf 980 Metern über Meer gelegenes Ziel endlich als eine Art verstecktes Adlernest an einer dicht bewaldeten Bergflanke in Sicht kommt. Die Strasse verengt sich für die letzten Kilometer noch einmal, über das Stöhnen des nun heftig mit Bremsen beschäftigten Cacciamali-Motors hinweg meine ich gar ab und an ein verängstigtes Zähneklappern der Passagiere zu vernehmen. Nach insgesamt 57 Minuten ist die 25 Kilometer lange Tortur dann überstanden (man rechne die Durchschnittsgeschwindigkeit aus…), das Steindorf Indemini ist erreicht.

 

Indemini, welch eine Perle!
Indemini, welch eine Perle!

 

Indemini, das ist eine Ansammlung von etwa hundert Steinhäusern aus lokalem Gneis, die einzige Schweizer Siedlung im sonst nur von Italien zugänglichen Veddasca-Tal. Mit einer Strasse erschlossen wurde das Dorf erst 1918, entsprechend lange blieb es quasi isoliert und entwickelte sich zu einem beeindruckenden kleinen Mikrokosmos. Abgesehen von der Hauptstrasse ist das Hangdorf autofrei, ein Irrgarten aus verwinkelten engen Gässchen zieht sich durch die Ansammlung rustikaler Häuschen. Schnell vorwärts kommen ist hier nicht, das lehren einem dieses Labyrinth und die anspruchsvolle Topographie rasch. Stattdessen eignet sich das abgelegene Indemini hervorragend, um den Rest der Welt einfach mal zu vergessen, den Stress hinter sich zu lassen, zwei oder drei Gänge runterzuschalten und die vielen künstlerischen Details aufzusaugen, mit welchen die stolzen Indeminesi ihr Juwel gerne schmücken.

 

In den verschlungenen Gässchen des Dorfes unterwegs
In den verschlungenen Gässchen des Dorfes unterwegs

 

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Lange hatte es für ihr Dorf nämlich nicht gut ausgesehen, die einst stattliche Zahl von 400 Einwohnern war auf die 40 Hartgesottensten von ihnen geschrumpft. Viel Arbeit gab es hier oben nie – die meisten Einwohner verdingten sich als Gepäckträger oder Maurer in Norditalien, wo sie mit der Zeit irgendwann sesshaft wurden, statt halbjährlich in ihre abgeschiedene Heimat zurückzukehren. Wer hier geblieben war um inmitten der dichten Kastanienwälder die wenigen Felder zu beackern, fand auch keinen Wohlstand – und versuchte sein Einkommen daher oft mit ein paar heimlichen Fuhren über die Grenze aufzubessern. Ein richtiges kleines Schmugglernest, dieses Indemini – aber was für ein sympathisches!

Das haben glücklicherweise auch einige die Ruhe und Abgeschiedenheit suchende Zuzieher aus der Deutschschweiz entdeckt, wodurch sich die Einwohnerzahl wieder einigermassen stabilisiert hat. Es ist ein besonderer Schlag von Menschen, den es hierher zieht, aber wer bleibt, der ist stolz und voller Herzblut für sein kleines Paradies. Man organisiert sich in einer Facebook-Gruppe namens „Amici di Indemini“ und berät gemeinsam, wie die Zukunft des Dorfs aussehen soll. Wirklich gerettet ist es nämlich noch immer nicht, einige sehen es aufgrund seiner Abgelegenheit nach wie vor vom Tod bedroht. Abhilfe schaffen könnte ein Tunnelprojekt, welches einen Grossteil der exponierten und lawinenanfälligen Zufahrtsstrasse in den Berg verlegt, die Fahrzeit bis hinunter ins Tal auf 18 Minuten verkürzt und so Indemini als Agglomerationsgemeinde Locarnos ein paar neue Einwohner zuspülen könnte.

 

Unterwegs im Gässchen-Labyrinth von Indemini, TI
Alles Stein oder was?

 

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Chic, der Eingang zu unserem Rustico für die Nacht!
Chic, der Eingang zu unserem Rustico für die Nacht!

 

Sie sind also zäh und kämpferisch, die Freigeister von Indemini, und eben auch voller Leidenschaft für ihr Paradies am Ende, `tschuldigung, am Anfang der Welt, wie es auf der Dorf-Webseite so schön heisst.
Das wird auch sofort spürbar, als meine Freundin und ich die Unterkunft für unsere Nacht betreten: die zugezogene Familie Brennwalder/Wüthrich hat zwei Rustici zu wunderschön hellen, modernen und trotzdem extrem heimeligen Studios umgebaut. Was für ein Bijou!

 

Gelungene Mischung aus rustikal und top-modern!
Gelungene Mischung aus rustikal und top-modern!
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Entsprechend entspannt schlafen wir hier oben im ruhigen Indemini, und sind am nächsten Morgen perfekt ausgeruht für die auf dem Programm stehende Bergwanderung. Ja, richtig gehört, eine Bergwanderung – auch sie ein kleines Mosaiksteinchen im Gesamtkunstwerk meiner Schweiz-Umrundung! An ihrem Beginn steht abermals der Cacciamali-Bus vom Vortag, welcher uns zurück auf die Alpe Neggia bringt. Von dort geht’s per pedes weiter, auf dem Höhenweg über den Monte Tamaro einer neuen Postautoregion entgegen.

 

Blick hinab auf Indemini - zu gerne hätte ich ja den breiten Neoplan-Bus im Einsatz erlebt...
Blick hinab auf Indemini – zu gerne hätte ich ja den breiten Neoplan-Bus auf dem schmalen Strässchen im Einsatz erlebt…
...doch wir müssen abermals mit dem Cacciamali Vorlieb nehmen...
…doch wir müssen abermals mit dem Cacciamali Vorlieb nehmen…

 

Bergfahrt hoch zur Alpe Neggia
Bergfahrt hoch zur Alpe Neggia
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Das wird kompliziert :-)
Das wird kompliziert 🙂

 

Ankunft auf der Alpe Neggia, 1395 m.ü.M....
Ankunft auf der Alpe Neggia, 1395 m.ü.M….
...wo wir umgehend neugierig beäugt werden :-)
…wo wir umgehend neugierig beäugt werden 🙂

 

Der einleitende Aufstieg von 400 Höhenmetern bringt uns zwar ordentlich ins Schwitzen, dafür wird die Aussicht mit jedem Schritt eindrücklicher: sie reicht über den Lago Maggiore und Locarno hinweg bis in die Zentralalpen.

 

In der Ferne thront die Dufourspitze, der höchste Punkt der Schweiz...
In der Ferne thront die Dufourspitze, der höchste Punkt der Schweiz…
...gleichzeitig liegt direkt vor uns das Seebecken von Ascona, der tiefste Punkt des Landes!
…gleichzeitig liegt direkt vor uns das Seebecken von Locarno, der tiefste Punkt des Landes!

 

Auch in Richtung Italien und Indemini kann man sehen :-)
Auch in Richtung Italien kann man sehen…

 

Indemini im Close-up
…und natürlich auch aufs “Adlernest” Indemini

 

Die ersten 45 Minuten geht es eigentlich nur aufwärts, doch die Plackerei lohnt sich...
Die ersten 45 Minuten geht es eigentlich nur aufwärts, doch die Plackerei lohnt sich…
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Panoramablick auf Locarno und die Magadino-Ebene
Panoramablick auf Locarno und die Magadino-Ebene

 

Schliesslich folgt das speziell saftige Kernstück der Etappe: der einst vom Militär in den Fels gehauene Höhenweg, der besonders exponiert dem Bergscheitel entlang verläuft, und so für einen leichten Adrenalinkick sorgt. Nichts Gefährliches, aber doch äusserst sehenswert. Im letzten Drittel führt uns dann ein gut ausgebauter Weg talwärts zur Alpe Foppa, einem auf 1‘530m.ü.M. gelegenen Touristenmagneten mit Self-Service-Restaurant, Rodelbahn, Kinderspielplatz und dem ganzen Tralala sowie – man staune – einer vom einheimischen Stararchitekten Mario Botta entworfenen Kirche, genannt Cappella di Santa Maria degli Angeli.

 

Das interessanteste Teilstück beginnt!
Das interessanteste Teilstück beginnt!
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Wanderung über den Monte Tamaro - ausgehend natürlich vom Postauto-Netz!

 

Welch wunderbare Aussicht hier oben!
Welch wunderbare Aussicht hier oben!

 

Wander-Autobahn hinab zur Alpe Foppa
Wander-Autobahn hinab zur Alpe Foppa
Freizeit-Zentrum auf der Alpe Foppa
Freizeit-Zentrum auf der Alpe Foppa

 

Die Kirche auf dem Berg - ein gelungenes Werk!
Die Kirche auf dem Berg – ein gelungenes Werk!

 

In einem einzigen Augenblick sieht man hier oben mehr Personen, als in ganz Indemini wohnhaft sind, und so finden wir uns mit einem Schlag zurück im Alltagsrummel von schreienden Kindern, bellenden Hunden, und…Postauto-Fahrplänen. Mist, die gibt’s ja auch noch. Im wunderschönen Indemini hatten wir viel zu viel Zeit vertrödelt, auf dem sehenswerten 7km-Fussmarsch ebenso, und die Portion Tessinerwürstchen mit Pommes hier im Bergrestaurant musste natürlich auch sein. Doch was in Indemini noch möglich schien, geht hier definitiv nicht mehr: die Zeit zu biegen. In einer halben Stunde fährt unten im Tal das Postauto, daran gibt’s nichts zu rütteln. Aber ich bin ja noch immer auf meiner Joker-Etappe – also hüpfe ich für den Abstieg hinunter ins Vedeggiotal flugs in die Gondelbahn – naja, immerhin danken es die Knie, die tausend Höhenmeter wären gewiss eine Qual gewesen.

 

Und zurück geht's in die Zivilisation!
Und zurück geht’s in die Zivilisation!

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