28: Bellinzona – Locarno – Verzascatal

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Nach einer ereignislosen Fahrt von Bellinzona nach Locarno, lasse ich mich von den Postautos in zwei charakterstarke Tessiner Täler entführen. Im Verzasca-Tal begeistern der smaragdgrüne gleichnamige Fluss sowie der pittoreske Dorfkern von Sonogno; im abgelegenen Onsernone-Tal zeigt sich die wilde Natur fast unberührt, nur ein paar Terrassendörfer schmiegen sich an die steilen und dicht bewaldeten Hänge.     

28: Bellinzona – Locarno – Verzascatal

 

 

Fahrt-Logbuch:

Linie Von Nach Bus BJ Halter Zeit KM
311 Bellinzona, Stazione Locarno, Stazione Mercedes-Benz O550 Integro 1998 FART 0:38 18,8
321 Locarno, Stazione Sonogno Irisbus Crossway 12m 2009 Chiesa, Riazzino 1:11 32,3
321 Sonogno Locarno, Stazione Irisbus Crossway 12m 2009 Chiesa, Riazzino 1:08 32,3

 

English Summary:

English Translation - click to view

From Bellinzona I could just head northeast and continue with my plans of circumnavigating Switzerland. However, this would definitely be a huge mistake as it would leave most of the country’s charming southern region (The Ticino) untouched. I therefore decide to throw in some extra fun and extra miles and make it my intermediate goal to reach Switzerland’s southernmost tip at the Italian border near Chiasso before continuing with my original journey. Of course, again, the PostBusses are the means of choice to take me there.

However, the start of this adventure is pretty underwhelming: The journey between the two large cities of Bellinzona and Locarno is a boring 40-minute endeavour along a seemingly endless and straight main road that is almost constantly lined with car dealers and gas stations, and virtually nothing to please the eye.

However, things get much more natural after reaching Locarno, as I step onto a PostBus bound for the Verzasca Valley. The main attraction during the 70-minute ride towards the town of Sonogno is the raging Verzasca river, whose emerald green waters have carved fascinating rock formations and stunning whirlpools into the surrounding landscape. That’s some amazing natural beauty right outside my bus’ windows. Fantastic! The town of Sonogno then amazes me with its beautifully restored center, consisting of a few dozen of the region’s famous stone cottages, so-called Rustici. Those are the exact charms I was hoping to find in the Ticino region, and so I’m very happy to explore a bit more of it in the coming episodes. And I hope you’ll be coming along as well!

 

In der letzten Episode bin ich bis nach Bellinzona gekommen. Von Bellinzona aus wird es dereinst auf meiner Rundreise auch weitergehen in Richtung Graubünden und Ostschweiz. Doch bevor es soweit ist, möchte ich noch etwas das Tessin erkunden und setze mir daher zum Ziel, mit dem Postauto so weit nach Süden zu gelangen, wie möglich. Wer nur an “echtem” Reisefortschritt interessiert ist, möge diese und die nächsten fünf Episoden also überspringen. Und diejenigen, welche mit mir zusammen gerne etwas die Sonnenstube der Schweiz entdecken möchten, sollen einfach weiterlesen 🙂

 

Es ist Mittag am Bahnhof Bellinzona, als ich mein nächstes Postauto ansteuere. Doch mich trifft fast der Schlag. Das vierrädrige Etwas, das hier an der Haltestelle steht, es ist weiss! Das ginge ja noch, doch auch der Chauffeur trägt statt einer gelben eine blaue Uniform. Und das, obwohl an der Frontscheibe – etwas hingepfriemelt zwar, aber immerhin – die korrekte Liniennummer “311” prangt. Irgendwas stimmt hier nicht. Doch die Abfahrt steht kurz bevor, schnelle Entscheidungen sind gefragt. Soll ich einsteigen? In einen potentiell fremden Bus? Oder mal abwarten, ob der noch die Farbe wechselt? Perplex lasse ich den unerwarteten Störenfried erst einmal ziehen, und begebe mich im Internet auf Spurensuche, was denn hier falsch gelaufen ist.

Eigentlich sieht alles aus wie immer. Im Postauto-Netzplan ist die Linie 311 von Bellinzona nach Locarno wie gewohnt eingezeichnet (und trägt gar mein Geburtsdatum, weshalb sie eine besondere Herzensangelegenheit darstellt), auch das Postauto-App kennzeichnet sie mit gelber Farbe, statt weiss für fremde Buslinien. Erst das offizielle Kursbuch bringt etwas Licht ins Dunkel: die Strecke wird von Postauto und der Tessiner Regionalbahn FART (welch wunderschöner Name, besonders im englischen Sprachraum!) in Kooperation betrieben, Busse beider Unternehmen kommen abwechselnd zum Einsatz. Nur leider tun sie dies ohne irgendein erkennbares System.

 

Der fremde Fart-Bus
Der fremde Fart-Bus

 

Eine halbe Stunde später ist der nächste Bus fällig, und es ist…*trommelwirbel*…wieder ein weisser. Che cazzo. Irgendwo in der Einflugschneise zum Bahnhof Bellinzona scheint sich da eine übermütige Packung Ariel ganz gehörig auszutoben, und all meine Postautos mit ihren weltbekannten Fähigkeiten etwas allzu enthusiastisch reinzuwaschen. Das passt mir ja schon ganz und gar nicht – andererseits habe ich ja auch nicht den ganzen Tag Zeit, auf ein wirkliches Postauto zu warten. Auch meine Freundin, welche ich mit viel Fingerspitzengefühl überredet habe, mich auf dem Tessiner Abschnitt meiner Reise zu begleiten, würde so ganz und gar nicht einsehen, wieso wir stundenlang am Bahnhof Bellinzona herumlungern müssen, nur weil ein Bus die falsche Farbe trägt. Und zudem habe ich heute noch einiges vor. Also besteige ich mit leicht schlechtem Gewissen den “weissen Furz” – immerhin, es handelt sich ja eigentlich um eine Postauto-Strecke, nur schickt halt irgendeine höhere Macht immer weisse Busse vorbei. Ich bin also unschuldig!

Etwas Gutes hat das unplanmässige Fremdgehen zudem: die zum Einsatz kommende FART Furz-Kiste ist älter als jedes bisher benutzte Postauto und beschert mir so einen neuen Rekord im Logbuch: Baujahr 1998 hat der Integro aus dem Hause Mercedes-Benz – mein erster aus dem alten Jahrtausend! Klapperkiste kann ich den Bus leider nicht einmal nennen, denn die solide deutsche Wertarbeit überzeugt selbst 17 Jahre nach Inbetriebnahme noch mit sanften und ruhigen Fahreigenschaften.

 

Auf dem Weg nach Locarno...
Auf dem Weg nach Locarno…

 

Die Fahrt von Bellinzona nach Locarno gleicht dem Bus dann aufs Haar: Fremd und farblos, und nicht mehr ganz taufrisch wirkt die Gegend auch – vielleicht liegt’s aber auch am unerwartet düsteren Wetter. Die Etappe hat sich, obwohl doch über 40 Minuten dauernd, kaum in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir passieren weder schöne Landschaften, noch ansprechende Orte. Alles erscheint wie ein Einheitsbrei aus Tankstellen, Autohändlern und einigen charmebefreiten Wohnblöcken in einer nie enden wollenden Daueragglomeration zwischen den beiden Tessiner Wirtschaftsmetropolen. Im Augenwinkel sehe ich ein oder zweimal kurz den Lago Maggiore aufblitzen, ansonsten ist aber nichts Sehenswertes mehr zu verzeichnen. Achja doch: jeder Bus, der uns entgegen kommt, ist natürlich ein strahlend gelbes Postauto. So also geht das mit Salz in die Wunden streuen auf Tessinerisch.

 

Auf der Piazza Grande von Locarno
Auf der Piazza Grande von Locarno

 

Schliesslich kommen wir in Locarno an. Doch leider ist das einzige, worauf ich mich gefreut hatte, die kulturelle Hauptsehenswürdigkeit, die grosszügige aber gleichwohl charmante Piazza Grande,  gezeichnet von einem der vielen darauf ausgetragenen Anlässe: Auf den Pflastersteinen liegen wild verteilte Haufen von Plastikstühlen, die sehenswerteste Häuserzeile des Platzes wird von einer halb abgebauten Bühne verdeckt. Da hilft nur noch die Flucht in die Höhe, mit der ratternden Standseilbahn erklimmen meine Freundin und ich die nördlichen Hänge der Stadt und blicken bald auf eine erhaben über dem Seebecken thronende Kirche: die Klosteranlage Madonna del Sasso. Und als hätte der göttliche Beistand gewirkt, lugt auch alsbald kurz die Sonne hervor. Perfekt!

 

Kirche Madonna del Sasso in Locarno, TI
Kirche Madonna del Sasso in Locarno

 

Das Panorama geniessen :)
Das Panorama geniessen 🙂

 

 

Verzasca-Tal

 

Nach dem FART-Fiasko und dem wetterbedingten Stimmungstief schlägt meine Freundin, hilfsbereit wie sie ist, vor,  zum Trost doch von Locarno einen Abstecher ins Verzascatal zu machen. Das habe sie aus ihrer Kindheit als wunderschön in Erinnerung, zudem fuhren da bestimmt auch Postautos. So ist es tatsächlich, und so quetsche ich für den nächsten Morgen einen kurzen Sprint ins Tal und zurück in unseren Reiseplan.

Schon beim Einsteigen merken wir: Hier wird vom Chauffeur noch echte Pöstler-Arbeit geleistet! In etlichen grauen Boxen liegen all die Briefe und Zeitungen, welche ins Tal transportiert werden müssen, neben dem Bus bereit und werden vom Fahrer mit stoischer Ruhe in sein Gefährt gebeigt: einen handelsüblichen Irisbus Crossway übrigens, betrieben von Postautohalter Chiesa aus dem Dorf Riazzino am Eingang des Verzascatals.

 

Das Postauto wird seinem Namen endlich mal gerecht!
Beginn der Fahrt entlang der Nordhänge der Magadinoebene

 

Das Verladen der Post dauert noch etwas, was mir Zeit gibt, auf der informativen Webseite des Postautohalters die Transportgeschichte des Tals und des Familienbetriebes nachzulesen. Es war im Jahr 1925, als der aus dem benachbarten Onsernonetal zugewanderte Edoardo Chiesa erste Post- und Transportdienste auf dem damaligen Mauleselpfad im Verzascatal anzubieten begann. Pünktlich zum 1. August 1927 schloss man einen Vertrag mit der Post und war fortan motorisiert unterwegs – in Sonogno sei das Postauto gar mit Salutschüssen empfangen worden, erzählt man sich. Der Service etablierte sich, bald wurden vier tägliche Fahrten angeboten und nach fünf Jahren gar ein zusätzlicher Fahrer eingestellt – er blieb ganze 38 Jahre im Unternehmen. Dieses florierte weiterhin, auch dank des passionierten Einsatzes seines Patrons: so habe der gute Eduardo im Lawinenwinter 1951, als die Strecke mehrere Monate verschüttet blieb, die letzten 14 Kilometer von Lavertezzo nach Sonogno täglich zu Fuss bestritten, um die Post gleichwohl ins Tal zu bringen.

 

Einblicke in die Geschichte von Postautohalter Chiesa. Quelle: www.chiesabus.ch

 

Blick auf den Lago Maggiore
Blick auf den Lago Maggiore

 

 

Wir erreichen Vogorno…
…und so sieht das aus der Vogelperspektive aus

 

Blick hinüber auf das ursprüngliche Dörfchen Corippo
Blick hinüber auf das ursprüngliche Dörfchen Corippo

 

Ganz so beschwerlich ist die Reise heute nicht mehr. Zwar dauert die Fahrt von Locarno bis nach Sonogno noch immer eine Stunde und vierzehn Minuten, sie erfolgt aber auf einer gut ausgebauten Strasse. Auf dieser erklimmen wir hinter Tenero erst die Hügel, welche die Magadinoebene umschliessen, bevor wir bald einer ersten Attraktion entgegenblicken: der 220 Meter hohen Contra-Talsperre, auch Verzasca-Damm genannt. Sie staut die Verzasca seit dem Jahr 1965 zum 5,5 Kilometer langen Lago di Vogorno, und ist mittlerweile weltbekannt: James Bond hat’s vorgemacht, seither stürzen sich hier Jahr für Jahr Wagemutige am Bungee-Seil in die Tiefe.

 

Eindrücklich: Die Verzasca-Staumauer
Eindrücklich: Die Verzasca-Staumauer

 

Das Resultat der Stauung
Das Resultat der Stauung

 

...
Blick hinunter in den Stausee
Blick hinunter in den Stausee

 

Die Blicke auf den See währen nicht lang, rasch geht’s weiter taleinwärts. Bald heisst uns das schmucke Dorf Lavertezzo willkommen, so etwas wie das touristische Zentrum des Tals. Das ist zum einen der Verdienst der Verzasca, die sich im Abschnitt entlang des Dorfes von einer besonders schönen Seite zeigt. Zum anderen ist dafür aber auch Lavertezzos steinernes Wahrzeichen verantwortlich, die doppelbogige Steinbrücke „Ponte dei Salti“. Wird sie umgangssprachlich als Römerbrücke bezeichnet, stammt sie eigentlich bloss aus dem Mittelalter – lange Zeit war das schwer zugängliche und wilde Tal für Eroberer nämlich uninteressant und daher kaum erschlossen. Das ist mit ein Grund, weshalb sich hier noch viel Ursprüngliches findet. Ein anderer Grund hierfür ist der Arbeitsmangel im Tal, gerade zu den Weltkriegszeiten. Um der Bevölkerung trotzdem einen Tagesinhalt zu geben, liess man sie Handwerksarbeiten verrichten und die traditionellen Häuser des Tals, die Rustici, renovieren. Dank diesem Schritt finden sich heute hier noch zahlreiche intakte Dorfkerne.

 

Ankunft in Lavertezzo

 

Auch aus der Vogelperspektive eine Wucht!

 

Für diese Steinpools ist Lavertezzo berühmt…

 

 

…und sie liegen wie die “Römerbrücke” direkt neben der Postautostrecke

 

 

Die "Römerbrücke" ist bereits gut besucht
Blick aus dem Postauto: Die “Römerbrücke” ist heute gut besucht

 

Hübsch hier!
Hübsch hier!
...

 

Wir folgen der Verzasca weiter in ihr Tal hinein, und immer wieder überrascht der ungestüme Fluss mit geradezu lieblichen Ansichten: mit seiner unbändigen Kraft hat er im Lauf der Jahrhunderte einige Teiche aus dem Felsen gefräst, aus welchen sein klares smaragdgrünes Wasser den Touristen besonders farbenfroh entgegenstrahlt und sie fast magisch zum Baden verleitet. Ein wirklich wundervolles Fleckchen Schweiz – schade nur, findet die Sonne so früh am Morgen kaum den Weg ins Tal und brause ich hier mit 80km/h durch. Aber auch hier: ich komme wieder!

 

 

Die Verzasca, unser stetiger Begleiter
Die Verzasca, unser stetiger Begleiter

 

 

...

 

 

Der Verzasca entlang dem Dörfchen Sonogno entgegen…

 

Die Verzasca - das Juwel des Tals
Die Verzasca – das Juwel des Tals

 

 

Fahrt über die Ponte Verzasca bei Ganne

 

Die Schönheit der Verzasca ist einmalig!

 

 

 

 

Ihr Ende findet die Fahrt im hintersten Dorf des Verzascatals, Sonogno. Es teilt das von Auswanderung geprägte Schicksal der gesamten Talschaft, und so sind von den einst 350 Einwohnern gerademal noch etwa 80 übrig geblieben. Umso ansprechender ist dafür ihre Hinterlassenschaft: Das Dorfbild ist weitgehend intakt, von der niedlichen Piazzetta am Dorfeingang führen hübsche kleine Gässchen ins Innere, wo wunderschön instand gehaltene Steinhäuser warten. An jeder Ecke sind liebliche Details zu entdecken, die ganze Szenerie weiss einem hervorragend zu entschleunigen und kurzzeitig in die Vergangenheit zu entführen – bis vom Dorfrand das Posthorn erklingt und zur Eile mahnt: Abfahrt in wenigen Minuten, das nächste Tal ruft. Doch das ist dann der Stoff der nächsten Etappe 🙂

 

Ankunft in Sonogno, TI
Ankunft in Sonogno

 

Am Dorfplatz
Am Dorfplatz

 

Hübsch, hübsch!
Hübsch, hübsch!
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Detailstudien...
Detailstudien…
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Auf der Hauptgasse unterwegs, der Strada dal Fórn
Auf der Hauptgasse unterwegs, der Strada dal Fórn

 

Im prächtigen Morgenlicht thront die Kirche Santa Maria Lauretana vor der Bergkulisse
Im prächtigen Morgenlicht thront die Kirche Santa Maria Lauretana vor der Bergkulisse

 

 

Das Versprechen mit dem “Ich komme wieder!” löste ich übrigens einige Monate später ein, und machte mich auf, die Schönheiten des Verzascatals etwas besser zu würdigen – im Schritttempo nämlich, bei einer Wanderung von Gerra nach Lavertezzo. Und tatsächlich führte die gut zweistündige Wanderung einige prächtige Impressionen zutage!

 

Die Verzasca in der Nähe von Brione

 

Traumhaft!
Blick von der Ponte dei Salti in Lavertezzo

 

An diesem Sommertag präsentiert sich die Verzasca bei Lavertezzo…
…fast etwas zu gut besucht 🙂

 

Schön ist es hier aber allemal!

 

Wer will auch gleich reinspringen?

 

P.S.: Nein, auch dieser Eintrag entstand NICHT in einer Zusammenarbeit mit Tessin Tourismus oder einem anderen Werbepartner  🙂

 

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