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Im Abendlicht wandere ich von St. Moritz hinüber nach Pontresina, von wo mich das Postauto auf einer schönen Bergfahrt über den Berninapass ins Puschlav bringt. In dessen Hauptort Poschiavo erwartet mich bereits das Erbe der lokalen Zuckerbäcker.
38: St. Moritz – Pontresina – Berninapass – Poschiavo
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
– | St. Moritz, Bahnhof | Pontresina, Bahnhof | Zu Fuss | – | – | 1:10 | 5,0 |
701 | Pontresina, Bahnhof | Poschiavo, Stazione | Volvo 8700 10,8m | 2003 | Balzarolo, Poschiavo | 1:04 | 30,8 |
English Summary:
Today’s episode starts in the noble resort town of St. Moritz, which took a pioneer role in Swiss winter tourism: It was in 1864 when a local hotelier invited a group of English summer tourists to return to his establishment in winter – promising that they would find plenty of relaxation and sunshine also in the colder season. The Englishmen came and were blown away by the beauty of the wintery alpine scenery (and the abundant sunshine) – and stayed all the way till Easter. When they returned back home, word about their fantastic experience spread quickly, and soon enough the winter tourism in St. Moritz – and later in the rest of the Swiss Alps – boomed.
Personally I’m on a bit of a tighter schedule and can’t stay till Easter, so after taking in a last good look of St. Moritz and its beautiful lake I set out for the neighbouring town of Pontresina. On foot, because while there are of course frequent bus connections in the Engadin valley, most of them are operated by another company and therefore off limits for me. However, the hour-long walk turns out to be very beautiful, leading me to a pristine lake called Lej da Staz and then through the woods down to Pontresina.
There, the next PostBus is already waiting for me: A beautiful elderly Volvo with manual transmission which is to take me southeast over the Bernina Pass to the Poschiavo valley at the Italian border. This pretty scenic route runs parallel to the tracks of the world-renowned Bernina Express trains – and is even half an hour faster :-). The ride is pure joy: The bus is empty except for me and the kind driver, the mountain road is virtually empty too, and the low evening sun turns the scenery into warm hues of yellow and gold.
We quickly make our way up to Bernina Pass, where its two signature lakes greet us, before we descend down into the Poschiavo valley while the shadows around us grow longer and longer. After little more than an hour we finally pull into the village of Poschiavo at sunset, where I stay for the night. In medieval times, thousands of its inhabitants fled the local poverty to try their luck as confectioners in all parts of the world, and quite a lot of them were pretty successful. Soon the Poschiavo people virtually controlled Venice’s confectionery business, established a remarkable network of pastry shops all over Europe, and not few of them finally returned to grace their hometown with their newly-found wealth. This sweet heritage can still be observed, especially when standing on Poschiavo’s main piazza, surrounded by the imposing neoclassical palaces of the generous repatriates.
Willkommen im ersten richtigen Winter-Ferienort der Schweiz! Dieses Prädikat gebührt nämlich dem Nobelkurort St. Moritz, dessen Hotelpaläste sich nun rings um mich erheben – sagt zumindest der allwissende Postaudio-Audioguide, der mich bei der Fahrt über den Julier stets begleitet hatte. Ein gewisser Hotelier Badrutt sei’s gewesen, der 1864 eine Gruppe englischer Sommertouristen mit dem Versprechen ins Engadin zurücklockte, sie könnten dort auch im Winter hemdsärmelig die Sonne geniessen – andernfalls würde er ihre kompletten Kosten übernehmen. Die Engländer kamen, und blieben – bis Ostern, so gut gefiel es ihnen. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat (braungebrannt und begeistert) schwärmten sie halb England von der Pracht des winterlichen Engadins vor – der Wintertourismus war geboren.
Mit ihm etablierte St. Moritz als Vorreiterin auch weitere Errungenschaften in der Schweiz: Um den nun zahlreich ins Engadin strömenden englischen Touristen die Ausübung ihrer gewohnten Winter-Sportarten zu erlauben, bauten die Hoteliers bald Anlagen für Curling, Bob und Skeleton – alles Sportarten, die nun fast schon zum Schweizer Kulturgut zählen und uns an winterlichen Wettbewerben immer wieder stattliche Medalliensätze bescheren. Darüber hinaus kann St. Moritz übrigens auch das erste elektrische Licht (1878 zu Weihnachten), den ersten Motorflug (1910) und den ersten Skilift der Schweiz (1935) verzeichnen. Nicht schlecht!
Trotz alledem: Für einen, der kurz zuvor noch durch das idyllisch-verträumte Obermutten spaziert war, ist all das etwas zu betonreich und zu urban. So verzichte ich auf einen Stadtrundgang und mache mich gleich auf die Socken, um die nächste Wanderetappe hinter mich zu bringen. Während das Engadin zwar nämlich gut vom ÖV erschlossen ist, befindet sich ein Grossteil der Buslinien im Besitz der Engadin Bus – und ist damit für mich tabu. Das lässt mir zwei Optionen: Entweder ich wandere nun 12 Kilometer nach La-Punt, wo wieder Postautos fahren. Oooooder ich wandere nur 5 Kilometer nach Pontresina, von wo ich via Puschlav – Tirano – Stilfserjoch – Val Müstair ebenfalls wieder ins Postautonetz des unteren Engadins komme, und dabei noch 200 Kilometer mehr an Eindrücken sammeln kann. Ich denke, die Wahl ist klar – und das nicht nur wegen den gesparten sieben Laufkilometern 🙂 . Ab nach Pontresina also!
Die 5 Kilometer auf einer offenbar vielbegangenen Wanderweg-Autobahn durch den Stazerwald hinüber nach Pontresina sind dann ein wahres Schaulaufen der Natur im Abendlicht. Der St. Moritzersee verzaubert mit seinem intensiven Königsblau, kontrastierend mit dem satten Grün der Wälder. Und wenig später beeindruckt der Lej da Staz: Im dunkelblauen Bergsee spiegeln sich anmutig die Gipfel der Region. Prächtig, prächtig! So geht die Stunde Wanderzeit im Nu rum, und schon stehe ich am Bahnhof Pontresina – dem Tor zum Puschlav.
Denkt man an die Route Pontresina – Poschiavo – Tirano, kommt einem vor allem eines in Sinn: Der Bernina Express, diese aussichtsreiche Bahnstrecke, welche als erst dritte überhaupt das Siegel eines UNESCO-Weltkulturerbes trägt. Nicht ganz so bekannt ist, dass man die ganze Strecke auch mit dem Postauto befahren kann. Und man ist erst noch eine halbe Stunde schneller! Perfekt für zeitknappe Unterländer wie mich :-). Mein Postauto wartet bereits am etwas verlassen wirkenden Bahnhof Pontresina. Am Gegenhang strahlen prächtige weisse Hotelbauten um die Wette: Das am Fusse zahlreicher Viertausender gelegene Pontresina war im Mittelalter gar bedeutsamer als St. Moritz, und hat auch seither als Bergsteigermekka einen stetigen Touristenstrom angezogen.
Es ist 17 Uhr, der Trubel des Tages ist bereits etwas abgeklungen, die letzten heimkehrenden Alpinisten sortieren auf dem Bahnhofs-Vorplatz ihre Rucksäcke, entwirren ihre Seile und massieren ihre malträtierten Wädli. Vor mir steht ein etwas ältlich wirkender Volvo 8700 aus dem Jahr 2003, daneben ein schmächtiges Mannli mit schütterem Haar aber dichtem Schnauzer; der Chauffeur. Er und ich würden die heutige Fahrt alleine bestreiten, weitere Gäste finden sich keine mehr ein.
Der Bus gehört Postautohalter Balzarolo, welcher so etwas wie das Mädchen für alles im Puschlav zu sein scheint. Nicht nur befördert er Postauto-Fahrgäste und schmeisst den Schulbus-Betrieb. Balzarolo führt auch ein Reisebüro, betreibt einen Getränkehandel, und repariert und vermietet Velos. Auskunft über all diese Tätigkeiten gibt seine mit viel Liebe gestaltete Webseite, die unter anderem auch mit erfrischend ehrlichen Kurzportraits jedes Chauffeurs aufwartet: So wird einer als «zuverlässig, freundlich, etwas dickköpfig» bezeichnet, ein zweiter als passionierter Briefmarkensammler ausgewiesen, und bei einem dritten steht das Attribut «handysüchtig» (trotz Jahrgang 1965, und bitte nicht am Steuer!). Letzterer beschreibt sich in einem Zitat auch gleich selbst: «Non sono bello, ma simpatico e pratico!» – Ich bin nicht schön, aber sympathisch und erfahren. Aaaaaha.
Zurück aber zur Kernkompetenz, dem Personentransport. Mein Chauffeur (Laut Webseite «Gesellig, zuverlässig und äusserst flexibel. Liebt es, in den Bergen zu wandern. Lieblingszitat: «Morgenstund hat Gold im Mund») kommt aus der Pause und schliesst den Bus auf. Pünktlich geht’s los, Federico (ich nenne ihn jetzt einfach mal so; auf seinem Namensschild stand nur F., aber Felix oder Franz wird er in diesem italienischsprachigen Teil unseres Landes ja kaum heissen) richtet die Nase seines Busses gen Südosten aus, greift routiniert an den Schaltknauf (juhui, wieder ein handgeschaltetes Exemplar!) und wir nehmen die Bernina ins Visier.
Schon nach den ersten Kurven zeigt sich eine wunderbare Szenerie: das Tal ist bereits in den abendlichen Schatten eingetaucht, doch in der Ferne leuchten arielweiss der Piz Bernina und der Piz Palü, gleich daneben ergiesst sich der mächtige Morteratsch-Gletscher ins Tal. Es braucht nur wenige Höhenmeter, dann ist auch unsere stetig ansteigende Fahrbahn wieder in der Sonne. Das Abendlicht taucht die ohnehin schon karge und von gelblichem Gras überwucherte Landschaft in ein wunderschönes goldiges Licht. Ein Traum, diese Fahrt! Kaum mehr Fahrzeuge unterwegs; die letzten Töfffahrer flitzen in Richtung Feierabendbier, der letzte Benina-Express zuckelt vorbei, keine schreienden Kinder im Bus – Federico und ich haben den Pass für uns allein. Echt genial!
Es dauert nicht lang, da erreichen wir die Passhöhe, gekennzeichnet natürlich von den beiden Seen Lej Nair und Lago Bianco. Leider geniesst nur noch letzterer etwas Sonnenlicht, aber schön ist die Aussicht trotzdem. Zu einem Fotohalt auf der Passhöhe lässt sich Federico leider nicht bewegen, obwohl er mir leidenschaftlich alle Sehenswürdigkeiten erklärt und mir vom Leben im Puschlav vorschwärmt.
Ins Puschlav steigen nun auch wir hinab, in ausgedehnten Kurven lassen wir die Höhenmeter dahinschmelzen. Die langen Schatten der umliegenden Berge haben das Tal schon fast ganz vereinnahmt. Nur ab und zu blitzt hier und dort noch ein Sonnenstrahl durch, belichtet eine einsame Kirche oder ein paar Häuschen irgendwo auf einer Sonnenterrasse. Auch Abendstund hat Gold im Mund, lieber Federico – und man muss erst noch nicht zu früh aus den Federn.
Allzu viel Handfestes gibt’s aber während unserer Talfahrt ins Puschlav nicht zu sehen, die Strasse verläuft grösstenteils im Wald und durch einen der abgeschiedeneren Teile der Schweiz. Im Örtchen San Carlo zeigt mir Federico noch, in welchem Haus er wohnt (das mit den blauen Fensterläden, falls ihn irgendjemand besuchen möchte) und grüsst im Vorbeifahren seine Frau mit zweimaligem Hupen. Soooo härzig! Dann kommen wir in Poschiavo an, eigentlicher Endpunkt des Postauto-Netzes.
Die Entwicklung des recht einsam gelegenen Poschiavo ging eher ruhig von Statten und war hauptsächlich von Passverkehr und Landwirtschaft geprägt. Viel zu tun gab es im abgelegenen Tal nie, auch die kargen Böden gaben oft nicht viel her. So sahen sich zahlreiche Puschlaver im 17. bis 19. Jahrhundert zum Auswandern gezwungen. Sie emigrierten nach Südeuropa, Russland, Süd- und Nordamerika und gar Australien, wo sie sich als Zuckerbäcker einen Namen machten. Einst war fast das ganze Konditorei-Segment Venedigs in Bündner Hand (bis die Stadt sie aufgrund dieser Dominanz kurzerhand alle rausschmiss), später spannte sich ein Netz von über 10’000 Konditoren über tausend Europäische Städte hinweg. Einige von ihnen kehrten mit ihren angehäuften Reichtümern in die Heimat zurück – wovon in Poschiavo die stattliche, südländisch anmutende, von eleganten neoklassizistischen Gebäuden umrahmte Piazza Communale zeugt, sowie ein veritables Villenviertel am südlichen Dorfrand. Ein schöner Ort, um die Nacht zu verbringen, und etwas Italianità auf Schweizer Boden zu geniessen. Buona notte!
2 Responses
SILVIA BOOS
Diese Fotos und Berichte ein Riesengenuss,eine ganz kleine Anmerkung, Kanton Graubünden steht nur 1 4000er: die Bernina, den Rest haben die Berner und Walliser unter sich aufgeteilt. Nicht als Kritik nur als kleine Info
Tis
Vielen Dank fürs Kompliment und die Erklärung! Das war mir tatsächlich nicht bewusst 🙂