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Der Weg südwärts ins Herzen des Tessins führt mich zwangsweise durch die von den zahlreichen Verkehrsträgern gezeichnete Leventina, doch auch hier finde ich das eine oder andere bezaubernde Plätzchen: Das Bergdörfchen Carì zum Beispiel, oder die Stadt Bellinzona mit ihrer pittoresken Altstadt und den drei imposanten Burgen.
27: Airolo – Bellinzona via Carì
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
111 | Airolo, Stazione | Faido, Stazione | Volvo 8700 LE | 2010 | Marchetti, Airolo | 0:23 | 16,0 |
119 | Faido, Stazione | Carì, Paese | Mercedes-Benz Sprinter 516CDI | 2011 | Barenco, Faido | 0:40 | 17,5 |
119 | Carì, Paese | Faido, Stazione | Mercedes-Benz Sprinter 516CDI | 2011 | Barenco, Faido | 0:35 | 12,4 |
111 | Faido, Stazione | Bellinzona, Stazione | Volvo 8700 LE | 2010 | Marchetti, Airolo | 1:02 | 42,0 |
English Summary:
The time has come to bid farewell to my beloved Alps (for now) and to head south into the Ticino region. This predominantly Italian speaking southern part of Switzerland has been luring tourists for centuries with its impressive assets: Striking natural beauty comprising lonesome rural valleys, stunning lakes and some posh holiday resorts, mixed with a nice blend of Alpine and Mediterranean charm and perfected with a hint of relaxed Italian flair.
First, I have to follow the southward path that has been trotted for centuries: All through the Leventina valley to the city of Bellinzona. Because of its crucial position for both road and railways, these carriers leave the poor upper Leventina valley only little room to breathe, the long slabs of concrete and iron making the first sector for my route less than scenic.
This changes instantly as I take a quick break in the formerly very hip (but now pitiably dated and faded) town of Faido. At the foot of two decaying former Grand Hotels, the remnants of the good old times when the elites of Milan travelled here to relax in the fresh mountain air, a small PostBus picks me up. The agile yellow Mercedes-Benz Sprinter takes me on a spin up some small and treacherous mountain roads to the region’s largest winter sports center, the alpine town of Carì.
Electrified by the fantastic views and narrow roads I’m ready for the second part of the Leventina crossing. Now it isn’t half as bad anymore. As the valley opens up a bit in its lower parts and provides enough space for some first lovely villages next to the road, my mood already gets considerably better. And as we reach today’s destination Bellinzona, I’m a happy camper again. Switzerland’s most Italian city, which was once owned by the dukes of Milan, wows me with its adorable old town that all but invites you to promenade its narrow alleyways, admire the beautifully restored façades and medieval arcades. The jewels in its crown are the striking Colegiata Church and the three impressive historic castles towering on the city’s lush green hills, totally supporting Bellinzona’s status as an UNESCO world heritage site.
Es ist später Nachmittag in Airolo, als ich meine nächste Postauto-Etappe in Angriff nehme: Die Standardroute eines jeden, der in den Süden fährt – die Leventina hinab nach Bellinzona. Etwas schwer fällt es mir ja schon, von den kurvigen Passstrassen und ihren sensationellen Ausblicken Abschied zu nehmen. Andererseits liegt wieder ein total anderes Stück der Schweiz vor mir, als diejenigen, die ich bisher erkundet habe: Der Tessin. Der südliche Zipfel unseres Landes, dessen Mischung aus rustikalem und mediterranem Charme bis weit über die Landesgrenzen hinaus eine grosse Anziehungskraft hat, wartet nur darauf, entdeckt und erkundet zu werden. Hier, wo der Putz öfters als nicht schon etwas von den Fassaden bröckelt, wo auf der Wetterkarte quasi dauerhaft ein Sünneli prangt, und wo lebensfrohe Italianità und gekonntes dolce-far-niente urschweizer Bünzlitum und Kleinkariertheit erfolgreich aus dem Alltag verdrängt haben – hier soll meine Reise nun ihre Fortsetzung finden. Denn immerhin etwas ist im Tessin gleich wie in fast allen anderen Schweizer Kantonen: Auch hier fahren Postautos, und nicht wenige!
Meine erste Linie ist gleich eine der längsten im Kanton: seit 1994 fahren die Postautos durchgehend im Stundentakt von Airolo bis nach Bellinzona, um die dannzumal gestrichenen Regionalzüge zu ersetzen. 58 Kilometer sind das immerhin, knapp anderthalb Stunden werden dafür veranschlagt. Nicht schlecht! Fahrzeug der Wahl ist heute ein Volvo 8700LE von Postauto-Unternehmer Marchetti aus Airolo, dessen Haupterwerbszweig ein Carreise-Betrieb mit Fokus auf die Bedienung italienischer Badeferienorte zu sein scheint.
Ich muss gestehen, an die italienischen Badeferienorte würde ich fast lieber reisen, denn meine Vorfreude auf die Leventina hält sich in Grenzen. In Erinnerung habe ich sie als irgendwie identitätsloses und nicht überaus liebliches Tal, welches hauptsächlich den Transitachsen von Strasse und Schiene Tribut zollen musste, und daneben nur wenige Glanzpunkte bietet. Zudem habe ich heute schon drei Passquerungen im Postauto in den Knochen, da entwickelt sich irgendwann eine gewisse Gleichgültigkeit – vor allem gegenüber geraden und flachen Strassen. Aber naja, lassen wir uns mal überraschen.
Der Beginn der Fahrt liest sich wie eine einzige Staumeldung – Airolo, Quinto, Faido, fehlt nur noch die Raststätte Stalvedro. Prompt sehen wir auch die nur zu gut bekannte Blechkolonne auf der Autobahn stehen. Hier auf der Kantonsstrasse präsentiert sich die Lage allerdings geradezu entspannt, und die Aussicht durchaus auch ansprechend. Zwar ist es tatsächlich so, dass Strasse und Schiene den grössten Teil des Tals einnehmen, und etwaige Dörfer leicht verschupft irgendwo an den Hängen kauern. Dafür ist aber die bauliche Umsetzung der Verkehrsinfrastruktur selbst ein recht eindrückliches Highlight: Die einzelnen Verkehrsträger flechten sich in zopfähnlicher Anordnung irgendwie leicht chaotisch talwärts, während sie sich mit spannenden Konstrukten dauernd gegenseitig über- oder unterqueren.
Nach gut 20 Minuten Fahrt erreichen wir die Bezirkshauptstadt Faido. Etablieren konnte sich diese erstmals, als der Warenverkehr über die Gotthardroute zunahm. Faido liegt nämlich gleich unterhalb einer Engstelle der Leventina (welche wir natürlich elegant im Tunnel gequert haben), und bot sich so als Rastort an, um für das Bezwingen der gefährlichen Stelle neue Kräfte zu tanken. Auch für das weitere Schicksal Faidos ist der Gotthard verantwortlich: Als der Ort dank der Gotthardbahn erstmals auf Schienen erschlossen wurde, strömten bald die Mailänder Eliten hierher, um nur fünf Stunden Zugfahrt von der hektischen Grossstadt entfernt Ruhe und Natur zu finden. Faido wurde für einige Jahrzehnte zum geschäftigen Luftkurort, zum “St. Moritz der Leventina”, ja war gar die erste Tessiner Gemeinde, welche über Elektrizität verfügte. Da die neue Bahnlinie etwas abseits des Dorfzentrums zu liegen kam, baute ein findiger Pionier gar zwei Hotelpaläste im Belle-Epoque-Stil gleich neben den Bahnhof, damit die edle Klientel ihre Füsse nicht übermässig beanspruchen musste. Viel übrig geblieben ist von diesem einstigen Hype nicht mehr – einzig die besagten zwei ehemals prunkvollen Hotels «Suisse» und «Milano», welche heute etwas abgemattet und verloren wirkend neben dem Bahnhof stehen, zeugen noch von der glanzvollen Ära des Eisenbahn-Tourismus.
Fast etwas mehr als die beiden Hotels interessiert mich allerdings der herzige kleine Vario-Postbus, der sich zwischen den zwei Bauten hindurchzwängt. Aaaaaha – wo kleine Postautos sind, sind oft auch schmale Bergstrassen. Das merke ich mir, und kehre ein paar Wochen später nochmals zurück nach Faido, um den Eindruck der Leventina noch um eine Facette zu bereichern. Ich wähle die Route in den Bergferienort Carì aus, welcher sich vom einstigen Maiensäss zu einem (offenbar) bekannten Tourismusziel entwickelt hat – heute gilt das auf 1’622 Metern über Meer gelegene Carì gar als die höchstgelegene ganzjährig bewohnte Tessiner Siedlung. Von alledem weiss ich aber nichts – ich wähle die Route nur, weil sie die längste der ab Airolo angebotenen ist, und über die meisten Haarnadelkurven verfügt.
20 Haarnadeln sind es an der Zahl, sie alle erlebe ich im Mercedes-Benz Sprinter 516CDI des lokalen Postautobetriebes Barenco. Auch die Firma Barenco, welche kürzlich ihr 130-jähriges Bestehen feierte, hat ihren Ursprung in der Blüte des Faido-Tourismus: Ab Eröffnung der Bahnstrecke verdingte sich Gründervater Pietro Barenco damit, mit der Bahn ankommende Güter und Gepäckstücke zwischen Bahnhof und Dorfzentrum hin- und herzutransportieren. Bald bediente man auch die umliegenden Berggemeinden – im Sommer mit Pferdekutschen, im Winter mit Pferdeschlitten. Heute sind die Pferdestärken unter gelben Kühlerhauben versteckt, mit einer Flotte von 20 Bussen und Büsschen fährt Barenco sechs Strecken für Postauto Schweiz.
Auch meine Fahrt hält absolut, was ich mir von ihr verspreche. Auf einem schmalen Strässchen erklimmen wir innerhalb von 40 Minuten 900 Höhenmeter, und mit jeder Kurve werden die Ausblicke noch etwas eindrücklicher und schöner. So lässt sich selbst die Leventina ertragen…:-)
Nicht ganz so pittoresk präsentiert sich das Ziel Carì – hier dominieren identitätslose Neubau-Chalets und grössere Hotels. Aber einmal umdrehen, den Blick auf die gegenüberliegenden Berge schweifen lassen, und schon freut sich das Fotografenherz wieder!
Nach diesem Exkurs geht es nun weiter mit der Fahrt in der Leventina, denn weit bin ich noch nicht gekommen. Ab Faido sind es noch immer 42 Kilometer oder etwa eine Stunde bis nach Bellinzona. Die ersten paar Minuten davon kann ich noch nutzen, um die enge Tallandschaft und ihre Auswirkungen auf die Strassenarchitektur auf mich wirken zu lassen.
Bei Giornico ist dann die zweite und letzte Engstelle überwunden, ab hier vergrössert sich der Querschnitt des Tals beträchtlich – ich erreiche die sogenannte Riviera, den breiteren Talabschnitt. Das lässt endlich auch Raum für ein paar erste charmante Dörfchen entlang der Hauptstrasse. Besonders brennt sich die Ortschaft Biasca ins Gedächtnis ein, die nicht nur mit einer, sondern gleich mit zwei hübschen mittelalterlichen Kirchen aufwartet – Zeugen ihrer wichtigen Position entlang der Handelsrouten in Richtung Innerschweiz (via Leventina-Gotthard) und Graubünden (via Bleniotal-Lukmanier).
Von den nachfolgenden Ortschaften Osogna, Cresciano und Claro bleibt dann nicht viel hängen – weder in meinem Gedächtnis noch auf dem Speicherchip der Kamera. Das mag daran liegen, dass sie im sogenannten Buzza di Biasca anno 1515 einen Grossteil ihrer Häuser und damit auch ihres Charakters verloren haben. Damals brach oberhalb von Biasca ein natürlicher Damm, welcher anderthalb Jahre zuvor bei einem Felssturz entstanden war, und einen 5 Kilometer langen See aufgestaut hatte. Die riesigen zu Tal schiessenden Wassermassen begruben quasi den ganzen Rest der Leventina bis hin zum Lago Maggiore unter sich, und hinterliessen eine Jahrhunderte andauernde Zerstörung. Vielleicht liegt meine Gedächtnislücke aber auch einfach daran, dass wir Biasca – die erste richtig grosse Siedlung seit Brig! – in der abendlichen Rush-Hour passierten und nach all meinen einsamen Bergfahrten das Postauto mal wieder richtig vollgestopft ist. Okay, vollgestopft vielleicht nicht – aber nach der alpinen Einsamkeit genügt bereits eine zusteigende Mutter mit drei kleinen Kindern, um mir den Angstschweiss ins Gesicht schiessen zu lassen :-).
So sehne ich das Ende der anderthalbstündigen Fahrt wohl erstmals auf meiner gesamten Reise ein Kleinwenig herbei. Dies aber auch im Wissen, dass wir als Finale eine richtige Perle erreichen und ich deshalb unbedingt dort eintreffen will, bevor die Sonne hinter den Talflanken verschwindet: Die Hauptstadt des Tessins, Bellinzona. Bereits die Römer wussten um deren strategisch hervorragende Lage, welche sie zum Schlüssel zu Gotthard, Lukmanier und San Bernardino macht. Entsprechend umkämpft war Bellinzona auch in den folgenden Jahrhunderten, und entsprechend gut geschützt ebenso. Die letzten, die die Stadt verteidigungstechnisch so richtig aufbrezelten, waren die Herzöge von Mailand um 1300. Um die Stadt gegen die kämpferischen Schweizer Eroberer zu verteidigen, errichteten sie die bis heute bestehenden drei Burgen. Waaaas, halt! Kämpferische Schweizer Eroberer? Davon war bisher irgendwie noch nie etwas bis zu mir durchgedrungen – in der Schule hatten wir immer nur gelernt, wie die Innerschweizer von den Habsburgern aufs Dach bekamen, und sich dank ihrer Bauernschläue irgendwie zu retten vermocht haben. Aber dass wir Schweizer aktiv fremde Städte erobert haben? Na da schau einer an, was da ennet dem Gotthard alles passierte!
Im Fall von Bellinzona hat sich die Mühsal aber definitiv gelohnt. Obwohl die Stadt (zumindest in meinem Kopf) immer irgendwie ein Schattendasein hinter den schickeren Namen Locarno und Lugano fristet und höchstens ab und zu in der “Tagesschau” durch paragraphenreitende Bundesstrafrichter oder streikende SBB-Arbeiter mit ölverschmierten Händen auffällt, ist sie nämlich ein echtes Bijou. Nicht umsonst gilt Bellinzona als italienischste Schweizer Stadt. Im Kern verliert man sich in einem dichten Netz aus hübschen engen Gässchen, flaniert unter respektvoll renovierten Fassaden und Arkaden, ergötzt sich an äusserst schmucken Kirchen und stolpert dann schon ins nächste rustikale Grotto zu einem feinen Znacht. Wirklich ein Traum dieses Bellinzona – zu schade, dass mir hier nach meinem Monster-Reisetag nur noch 20 Minuten Tageslicht bleiben. Aber ich komme wieder! Geniesst also mit mir die abendliche Stimmung, bevor es dann im nächsten Blogbeitrag weiter südwärts geht.
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