Lesezeit: ca. 9 Minuten
Teil zwei meiner Fahrt über die Zentralalpen-Pässe bringt mich von Gletsch über den Furka nach Andermatt. Mit prächtiger Stimmung an Bord fahren wir vom einstigen Touristenmekka der High Society zum Rhonegletscher empor, welcher sich gar von innen besichtigen lässt. Ein passend fulminanter Abschluss für meine prächtige Zeit im Wallis, bevor ich der Zentralschweiz entgegensteuere.
24: Gletsch – Furkapass – Andermatt
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
681 | Gletsch, Post | Andermatt, Bahnhof | Iveco Bus Crossway 12m | 2015 | Regie | 2:06 | 29,0 |
English Summary:
Today’s episode covers the second part of my journey across central Switzerland’s famous mountain passes. Our focus lies on Furka Pass, which has been uniting people from the east and west for centuries and has always offered lots of possibilities for early trade.
But not only trade was popular in this region – tourism was, too. The alpine hamlet of Gletsch where I start today’s journey was once a huge tourism hotspot for the European high society, thanks to its location amid glaciers and mountains. In the 1850s, a local businessman named Seiler built the massive Hotel “Glacier du Rhône” which in its heyday offered more than 300 beds. However, due to wars, recessions, a new train line and faster road transportation, the hotel’s star soon began to fade and today it’s merely a shadow of its former self. Where tuxedoed waiters once served oysters and caviar to wealthy socialites, today loud biker groups wolf down French Fries and beer while sitting on plastic chairs.
Thankfully, my next PostBus soon picks me up and takes me away from this miserable scene out into the beautiful alpine countryside. The route I’m riding on is one of PostBus Switzerland’s seasonal sightseeing routes that allows you to cover up to four mountain passes in a full day of driving fun without ever having to change busses. That’s exactly my taste of course!
After ten minutes of climbing some exposed hairpin bends we reach businessman Seiler’s next institution: The Hotel Belvedere, nestled in the steep walls of the Furka massive. Traditionally, the PostBus stops here for an hour-long lunch break, even if the hotel is long closed. To compensate, the mighty Rhone Glacier just next door still amazes with its impressive size and thanks to an artificial tunnel through the ice it can even be explored from within.
Continuing our journey after the lunch break, we quickly make our way to the summit of the pass – at 2’436m above sea level it’s a new record high for my tour – where I also bid farewell to the river Rhone and the Valais region, which has provided me with a wealth of unforgettable experiences. Looking forward I say hello to the next region I’m about to pass through, the southern tip of Central Switzerland. On a now very narrow, exposed and winding road we’re making our descent down to the town of Andermatt, while my driver is continuously battling with inexperienced and overconfident oncoming drivers. What a journey this is!
Nach meinem Grimsel- und Gelmerbahn-Ausflug entsteige ich im Weiler Gletsch dem Berner Postauto und warte auf dasjenige, das mich auf meiner Reise weiter voranbringen und über den Furkapass nach Andermatt im Kanton Uri transportieren wird.
Dass der Weiler Gletsch ein regelrechter alpiner Knotenpunkt ist, kommt nicht von ungefähr. Immerhin liegt er am Fuss gleich zweier Pässe (Grimsel und Furka), auch der Sustenpass ist nicht weit entfernt. In Gletsch ist aber auch der Name Programm: Der Ort ist mehr oder weniger umzingelt von Gletschern und von Bergen, deren Gipfel stolz ihre weissen Schneekronen in die Höhe recken. Dazwischen schlängelt sich, als unschuldiger kleiner Bergbach durch saftig grüne Weiden, die eben erst entsprungene Rhone. Was für ein Anblick!
Dies hatte sich anno 1850 auch die Walliser Hotelierdynastie Seiler gedacht, kaufte einen beträchtlichen Teil dieses idyllischen Fleckens (samt Gletscheranteilen) und zog einen wuchtigen Hotelpalast hoch: Das «Glacier du Rhône», welches in seiner Blütezeit über 320 Betten verfügte. Rasch avancierte Gletsch zum weitherum bekannten Touristenmekka. Nun waren es nicht mehr nur die Schweizer Reisenden, die auf ihrer Postkutschen-Fahrt von Brig über die Pässe nach Andermatt (damals ein Unterfangen von mehr als 12 Stunden) hier rasteten und ihre Blasen leerten. Die Gutbetuchten aus ganz Europa strömten während der Belle Epoque zu Pferd in den kargen Talkessel und liessen ihren Blick über den nahen Rhonegletscher und die alpine Landschaft schweifen, während ihnen Kellner im Frack ein gediegenes Diner servierten. Derweil wurden auch die von den anstrengenden Passfahrten ihrer Gebieter ausgelaugten Kutschen-Gäule hier wieder aufgepäppelt – kein Wunder, dass Gletsch gerne auch als alpine Karawanserei bezeichnet wurde!
Seine Blütezeit dauerte aber gerademal einige Jahrzehnte, bis mit dem Ersten Weltkrieg der stetige Abstieg begann. Den Niedergang eingeläutet hatte bereits der Bau der Furka-Oberalp-Bahn, welche die langwierigen Kutschen-Passfahrten überflüssig machte – auch wenn der gewiefte Hotelpionier Seiler der Bahn das Land zum Schienenbau nur unter der Bedingung verkaufte, dass die Züge in «seinem» Gletsch einen stündigen Mittagshalt einlegen sollten, damit er die Passagiere zur Verköstigung ins Hotel locken konnte. Wer trotzdem noch die Strasse benützte, tat dies ab 1922 motorisiert – da wurden nämlich die Pferdekutschen durch Postautos ersetzt. Als sich schliesslich auch noch der Rhonegletscher immer weiter zurückzog, hatte das Hotel zudem seine grösste Attraktion verloren – keine gute Voraussetzung für ein Haus, welches witterungsbedingt ohnehin nur vier Monate im Jahr geöffnet ist.
So ist vom vergangenen Glanz von Gletsch auch nicht mehr ganz so viel übrig. Das „Glacier du Rhône“ ist zwar seit einigen Jahren wieder offen, vom einstigen Pomp ist aber nicht mehr viel zu sehen. Grölende Töffgruppen aus dem Unterland sitzen auf Plastikstülen auf dem Vorplatz und schlürfen profanen Süssmost. Idyllisch ist Gletsch (bzw. seine Aussicht) aber bis heute geblieben, und in Teilen sieht es hier so unberührt aus, wie sich die Schweiz wohl vor der Ankunft ihrer Siedler präsentiert haben muss – ausser, dass auf allen Seiten Passstrassen in den Fels gemeisselt wurden und der Rhonegletscher auf einen bemitleidenswerten Rest geschrumpft ist.
Von der einstigen Mittagsrast aus der Kutschenzeit ist im heutigen Postautofahrplan natürlich auch nichts mehr zu sehen – üblicherweise brausen die gelben Busse in Gletsch einfach durch, mit Halt auf Verlangen. Ich winke daher etwas stärker als üblich, als das Postauto angerauscht kommt, der nahende Fahrer setzt den Blinker und ein niegelnagelneuer Iveco Crossway kommt vor mir zum Stehen.
Als ich zusteige, nehme ich sofort von der familiären Atmosphäre und der gelösten Stimmung an Bord Notiz. Der Altersdurchschnitt beträgt 70 plus, Besuchergrüppchen schnattern in allen Dialekten des Mittellandes vor sich hin, nur zwei versprengte Japaner sitzen etwas vergelstert und ahnungslos gleich hinter dem Fahrer. Klarer Fall: Hier ist eine Pässefahrt im Gang. Solche bietet die Postauto Schweiz AG im Alpenraum in verschiedenen Variationen an. Zwar bedienen die Busse weiterhin den Fahrplan, Sinn und Zweck ist aber eigentlich, dass sie eine ganztätige Entdeckungsreise über mehrere Alpenpässe erlauben, ohne dass die Passagiere je umsteigen müssen. Also genau das, was ich brauche! Für die Kurse gibt es übrigens die Möglichkeit, Plätze zu reservieren – eine gute Sache, denn so grinst mich in der vordersten Sitzreihe ein Zettel an, welcher diese Plätze mit der besten Aussicht als „reserviert“ ausweist. Lässig kann ich ihn beiseiteschieben, und unter den leicht argwöhnischen Blicken der fünfzig Augenpaare hinter mir meine begehrteste Fotoposition einnehmen.
Bereits haben wir Gletsch hinter uns gelassen und entlang der bewaldeten Südflanke des Talkessels an Höhe gewonnen. Augenblicklich wird mir auch der Grund für die gute Stimmung an Bord bewusst, als der Fahrer – er stellt sich sogleich als Omar vor – zum Mikrofon greift. Voller Begeisterung referiert er über die Sehenswürdigkeiten, die an den grossen Busfenstern vorbeiziehen. Unterhaltsam ist dabei aber nicht nur die bemerkenswerte Leidenschaft, mit welcher der türkischstämmige Tessiner seinen Beruf (bzw. ganz offensichtlich seine Berufung) ausübt, sondern auch seine ausgesprochen melodiöse Interpretation der deutschen Sprache. Wer noch Alfonso von den Schmirinskis im Ohr hat, paare ihn gedanklich mit Kaya Yanar und er versteht mich bestimmt.
Noch bevor wir weiter den Furkapass erklimmen können, bremst uns unerwartet ein Rotlicht aus. Ein Rotlicht, hier mitten im kargen Nirgendwo der Bergwelt? Doch doch, die Ampel hat durchaus ihren Sinn, wie wir bald bemerken. In gemächlichem Tempo stampft uns eine historische Zugskomposition der Furka-Dampfbahn entgegen und quert die Strasse. Seit der Eröffnung des Basistunnels 1981 ist die Museumsbahn die alleinige Nutzerin dieser alpinen Gleise – und des mit 2‘160 m.ü.M. höchstgelegenen Alpendurchstichs der Schweiz.
Die Freude beider Ausflugsparteien über das Aufeinandertreffen ist gross, und wird von den Lok- bzw. Busführern gekonnt weiter befeuert: Posthorn und Dampfpfeife duellieren sich in einer infernalischen Kakophonie um die Vorherrschaft im alpinen Luftraum, während die Passagiere auf beiden Seiten eifrig die Fotoapparate zücken :-).
So, weiter im Text! Nachdem die Strasse wieder frei ist, können wir endlich die Westrampe des Furkapasses in Angriff nehmen. Weit kommen wir allerdings auch diesmal nicht, vor uns baut sich schon bald ein weiterer Zeitzeuge aus der Belle Epoque am Hang auf: das Hotel Belvedere. Auch dieses wurde von der Familie Seiler errichtet, 1892 als weiterer Puzzlestein in ihrer Vision der Tourismusdestination Gletsch. Jaja, einst standen zwischen Gletsch und Realp 600 Hotelbetten zur Verfügung! Heute fristet auch dieses Haus ein tristes Dasein. 40 seiner Zimmer wurden zwar renoviert, um mit dem nostalgischen Charme heutige Kunden in eine andere Ära zu entführen. Euroschock und Frankenstärke machen aber auch diesem Betrieb zu schaffen, weshalb er bis auf Weiteres wieder geschlossen bleibt.
Trotz des geschlossenen Hotel-Restaurants sieht der Postauto-Fahrplan hier eine stündige Pause vor, und während er sportlich die letzte Haarnadel nimmt, sagt Omar in seiner ganzen südländischen Herzlichkeit sein Standardsprüchlein auf: „Wer wille, darfe ier aussteigen und sage viele Dank. Andere die komme mit mir, ´abe Pause bis elfe Minute vor zweie“. Ähh, ja. Während ich im Kopf noch mit den Zahlen jongliere und sie in irgendein gängiges Format umzurechnen versuche, habe ich mich schon mitten in die Touristenmeute vorgekämpft. Gletsch mag ja wieder im Dornröschenschlaf versunken sein, aber hier oben steppt der Bär! Von der einstigen Noblesse des europäischen Hochadels ist zwar nichts mehr zu spüren, die blaublütigen Gäule sind heissen Feuerstühlen gewichen und die filigranen Kutschen haben kraftprotzenden Sportwagen Platz gemacht. Geblieben ist aber das unbestrittene Highlight: der formidable Blick hinunter auf den Rhonegletscher.
Doch nicht nur das: Jahr für Jahr fräsen fleissige Helferlein von neuem eine hundert Meter lange Grotte ins (nicht ganz so) ewige Eis, was es dem Besucher erlaubt, den Gletscher von innen zu erleben. Wahrhaftig ein ganz spezielles Gefühl, für das alleine sich der Abstecher schon gelohnt hat!
Um Punkt 11 Minuten vor 2 ist die ganze fidele Reisegesellschaft – oder zumindest der Teil, welcher die Zahlen korrekt zu interpretieren vermochte – wieder im Crossway versammelt, und die Reise kann weitergehen. Sie führt uns weiter nach oben, die Passhöhe steht uns ja erst noch bevor. Schon seit Urzeiten steht der Furka für das Verbindende, aber auch das Trennende. So separierte er einst die Bistümer Chur und Sion, gleichwohl schätzten die katholischen Innerschweizer diese direkte „Hintertür“ zu ihren Verbündeten im Wallis. Bereits die Römer nutzten den Furka als Ost-West-Verbindung, und die Walser machten ihn zu ihrer liebsten Handelsroute: Gegen Wein, Getreide und Felle aus dem Wallis kauften sie sich Salz, welches seinen Weg aus Deutschland oder Österreich in die Innerschweiz gefunden hatte. Auch für mich markiert die Furka-Passhöhe das Ende eines Abschnittes, und während ich meinen Blick ein letztes Mal über die dahinmäandrierende Rhone talabwärts schweifen lasse, denke ich an all die schönen Postauto-Erlebnisse zurück, welche mir das Wallis gewährte.
Dann tritt Omar kräftig aufs Gaspedal, nimmt Kurs auf die Passhöhe, und so endet ein längerer Abschnitt meiner Reise – und ein neuer beginnt. Aus 2‘436 Metern über Meer (wiederum neuer Höhenrekord!) starre ich voraus auf das Urserental, den Kanton Uri, die Innerschweiz und die nächsten Postauto-Routen.
Hier, nach der Passhöhe, verschmälert sich die zwischen 1863 und 1866 befestigte Furkastrasse zusehends. So rückt neben der beeindruckenden Aussicht auch das fahrerische Element wieder mehr in den Mittelpunkt, und Omar ist ganz schön gefordert. Immer wieder begegnen wir autofahrenden Pass-Novizen, die beim Anblick des entgegenkommenden Busses in eine Art Schockstarre verfallen, bockstill stehenbleiben und nicht mehr weiter wissen. Ruhig und geduldig lotst sie Omar dann im Stile eines Orchesterdirigenten von seiner Fahrerkanzel herab, während die verdatterten Automobilisten jeder seiner Handbewegungen zu folgen scheinen und vor unseren Augen eine Art Ballett auf Rädern aufführen – auch mal gerne zu dritt in einer Haarnadelkurve. Wenn man das Bild unten so betrachtet, fragt man sich ja schon, wie das überhaupt so weit kommen konnte…:-)
Sobald sich Omar den Weg wieder freigeschaufelt hat, geht es ein paar hundert Meter weiter, bis uns der nächste Töffrowdy mit Tempo 100 aus einer unübersichtlichen Kurve entgegengeschossen kommt und uns zu einer Vollbremsung nötigt. Da entweicht auch dem sonst so sanftmütigen Chauffeur mal ein spitzer Tessiner Fluch, bevor das Lächeln den Weg auf sein Gesicht zurückfindet. Auf meine Nachfrage meint Omar: Doch, er habe trotz diesen Momenten viel Spass an seinem Job, auch wenn er sich manchmal schon frage, was die Leute beim Fahren so überlegten – oder ob überhaupt was.
Dank Omars zahlreichen informativen Kommentaren wird die Fahrt noch kurzweiliger, als sie die spannende Szenerie ohnehin schon gemacht hätte. So lerne ich, dass die Bewohner des Urserentals lange nicht nur von ihren landwirtschaftlichen Produkten lebten (besonders der in Baumrinde eingewickelte Käse soll offenbar eine Wucht gewesen sein), sondern vor allem auch vom Säumerwesen über den Furka: Bis zu 200 Ladungen pro Tag scheffelten sie über den Pass.
Bald haben wir wieder die Baumgrenze erreicht und kommen wenig später auf dem Talboden des Urserentals an. Hier geht es auf einer schnurgeraden Strasse, sozusagen der Zielgeraden, der heutigen Destination entgegen: Via Realp und Hospental nehmen wir Kurs auf Andermatt. Neben uns fliesst derweil bereits ein neuer Fluss: Die Reuss. Die gleiche Reuss, auf die ich schon in der allerersten Etappe meiner Postauto-Reise in Bremgarten stiess, kurz nach der Abfahrt in Zürich. Die Distanzen, welche unsere Flüsse überwinden, und wie tiefgreifend sie auf dieser Reise ihren Charakter verändern, beeindruckt mich immer wieder!
Beeindruckend soll wohl auch das Fahrtziel des heutigen Tages sein: Andermatt – ein eher unscheinbarer Ort mit grossem Waffenplatz, gelegen in einem etwas kargen Talkessel. Und genau diesen Ort pflastert derzeit ein ägyptischer Investor mit Luxushotels und Golfplätzen voll, in der Hoffnung, damit die globalen Touristenströme ins urchige Urserental abzulenken. Vielleicht geht er sich mal in Gletsch umschauen, so als Idee, wie nachhaltig die Übung werden kann…:-)
Weil es gerade passt: Anbei noch einige Impressionen von einer Furka-Querung mit der bereits beschriebenen Museums-Dampfbahn, welche mit viel Liebe, Engagement und Freiwilligen-Arbeit instand gehalten wird. Ein echt empfehlenswertes Erlebnis, damit durch die Bergwelt zu tuckern – einfach in den Tunnels die Fenster gut schliessen, sonst droht man binnen Sekunden einer Kohlenmonoxid-Vergiftung zu erliegen.
Leave a Reply