20: Brig – Simplon – Domodossola retour

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Statt in Brig gleich meine Reiseroute fortzuführen, lasse ich mir vom Postauto eine klassische Bergstrecke zeigen: Die Verbindung über den historisch bedeutsamen Simplonpass, die mich auf den Spuren der mittelalterlichen Pioniere zuerst in Höhen von 2‘000 Meter emporhievt und mich schliesslich ins zauberhafte italienische Städtchen Domodossola bringt.

20: Brig – Simplon – Domodossola retour

 

Fahrt-Logbuch:

Linie Von Nach Bus BJ Halter Zeit KM
631 Brig, Bahnhof Domodossola, Stazione MAN R13 Lion’s Regio L 2007 Regie 1:42 68,5
631 Domodossola, Stazione Brig, Bahnhof MAN R13 Lion’s Regio L 2007 Regie 1:41 68,1

 

English Summary:

English Translation - click to view

 

While the settlement of Brig is the last proper city before I reach the core of the Swiss Alps, I take a quick break here before travelling onwards and hop on a special roundtrip tour instead. A cool-looking, impressive MAN Lion’s Regio Bus is to take me all the way to the Italian city of Domodossola – an adventure that takes 100 minutes to complete per way, transits the historically important Simplon Pass and reaches altitudes of up to 2’000 meters.

Racing up the wide access ramps of the well-developed mountain pass, the contrast to its origins couldn’t be bigger. It was once a mere mule track, dwarfed by the more important mountain passes like Gotthard and San Bernardino further to the east. As those became too risky to pass during medieval wartimes however, local businessman Kaspar Stockalper jumped at the chance and almost single-handedly engineered a new trade route over the Simplon Pass. He also developed connecting roads leading through much of the Rhone Valley and even established a weekly courier service between Geneva and Milan, providing new work for many of the local farmers. All of which made him a very rich and powerful man, whose wealth is displayed to date by his monumental palace in the center of Brig.

A couple centuries later another well-known man became aware of the pass’ advantages: Napoleon Bonaparte himself. The French leader ordered the route to be paved and a few hospices to be built, most of which are still standing today. Being the quickest connection between Paris and Milan, the Simplon Pass became a crucial pillar of his empire and has remained a busy transition between north and south until today – even if most of the traffic uses the railway tunnel now.

After a joyful and beautiful ride over alpine meadows and through narrow gorges, we descend some 1’700 meters and finally pass the Italian border. Afterwards, we continue speeding along the sweeping Autostrada before pulling into Domodossola, located a mere 300 meters above sea level. With its typical southern charms, its slightly decrepit air and its criss-crossing alleyways, the historic merchant town immediately puts a spell on me. What a worthwhile detour this was!

 

In der letzten Etappe habe ich mich nach Brig vorgearbeitet, der letzten veritablen Stadt vor meiner Überquerung der Zentralalpen und dem Tor zum obersten Teil des Wallis. Doch bevor es dorthin weitergeht, komme ich nicht umhin, zur Feier des 20. Blogbeitrags auch ab Brig noch eine wunderschöne Postauto-Extrarunde einzubauen – ja eine internationale Runde gar, denn es geht über die Grenze bis weit nach Italien. Dabei wird auch ein Pass überquert und man erreicht eine Höhe von 2’000 Metern über Meer. Mehr als genug Argumente, um mir die Sache anzutun. Die Rede ist natürlich von der Simplon-Route nach Domodossola.

Das mit dieser internationalen Alpenpass-Kür betraute Postauto sticht unter seinen Artgenossen am Bahnhof Brig, die allesamt zu profaneren Destinationen in der näheren Agglomeration pendeln, sofort hervor: Mit 13,7 Metern ist es länger, mit seinen zwei Hinterachsen mächtiger, und mit den runden Formen und stark getönten Scheiben einiges cooler: ein MAN Lion’s Regio L aus dem Jahr 2007.

 

MAN Lion's Regio für die Fahrt nach Domodossola am Bahnhof Brig
Mein MAN Lion’s Regio fährt vor!

 

Ich bin froh, als er endlich um die Ecke biegt, denn seit einer knappen halben Stunde warte ich schon am Bus-Parkfeld Nr. 4. Ich will unbedingt der erste sein, der einsteigt, und mir so den Platz auf dem Frontsitz ergattern. Immerhin breche ich gleich zu meiner bisher mit Abstand längsten Postauto-Fahrt der Tour auf, hundert Minuten werde ich im Bus sein – pro Richtung. Doch obwohl es sich um eine primär touristische Linie handelt, ist sie an diesem Sonntag viel weniger gebucht als erwartet. Kein grosser Ansturm an Rentnern aus dem Zug von St. Gallen, Zürich und Bern, stattdessen steigen bloss ein paar einheimische Wanderer ein, welche zur Passhöhe möchten. Und ein Vater gibt seine zwei kleinen Buben beim Fahrer ab – die (wohl geschiedene) Mutter wird sie 40 Minuten später in einem kleinen Bergdorf in Empfang nehmen.

Dann geht die Reise los. Eigentlich präsentiert sich der MAN Lion’s Regio-Bus ja sportlich und kraftvoll – doch wie so oft vermögen die inneren Werte mit dem äusseren Erscheinungsbild nicht ganz mitzuhalten. Oder kurz und prägnant: Irgendwie ist in seinem 12-Gang-Automatikgetriebe der Wurm drin. Bei jedem Mal Schalten geht dem Bus erst eine Sekunde lang völlig die Puste aus (was die steile Simplon-Nordrampe stets auf besonders perfide Weise offenzulegen weiss), und hat das Getriebe den neuen Gang dann endlich einmal gefunden, hüpft die zickige Raubkatze dafür mit einem beträchtlichen Satz wieder nach vorne. Bei 12 Gängen ergibt das eine ziemlich unruhige Fahrt, die mehr an ein Schaukelpferd auf dem Kinderspielplatz erinnert denn an einen Luxusbus für eine prestigeträchtige völkerverbindende Spezialroute.

 

Bye bye Brig
Bye bye Brig

 

Erste Höhenmeter werden erklommen
Erste Höhenmeter werden erklommen

 

Irgendwann jedoch hat sich meine Nackenmuskulatur an das stetige Vor- und Zurückgehüpfe gewöhnt, absorbiert es gekonnt und blendet es so fast gänzlich aus. So kann ich einigermassen entspannt das gebotene Panorama geniessen. Erst wird uns die Aussicht auf Brig präsentiert, als wir uns am Südhang des Rhonetals auf der weitherum sichtbaren, Autobahn-ähnlichen Zufahrtsrampe in die Höhe arbeiten.

 

Auf gut ausgebauter Strasse in die Berge: die Simplon-Nordrampe
Auf gut ausgebauter Strasse in die Berge: die Simplon-Nordrampe
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Blick zurück das Rhonetal entlang...
Blick zurück das Rhonetal entlang…

 

Dann biegen wir ins seitlich abzweigende Gantertal ein, wo die Landschaft sogleich viel ursprünglicher wird: dichte Wälder bedecken die Talflanken, in der Sohle windet sich ein Flüsschen. Eine Besiedelung – ja jedwelche Bebauung – sucht man vergebens. Wunderschön! Dafür sind die technischen Bauwerke, welche der Strasse ein Bezwingen des Passes ermöglichen, umso eindrucksvoller. Bereits die kilometerlangen Tunnels und Galerien sind nicht schlecht. Eine wahre architektonische Meisterleistung wartet aber weiter hinten im Tal: Die 678 Meter lange Ganterbrücke, welche in den Jahren 1976 bis 1980 erbaut wurde, um den Talboden bereits hier zu überqueren – und nicht wie historisch üblich weiter hinten, wo eine grosse Steinschlaggefahr lauert. Eigentlich wäre ja ein Tunnel geplant gewesen – doch die Gemeinde bat mehr so pro forma den renommierten Schweizer Brückeningenieur Christian Menn um einen Entwurf für eine etwas luftigere (und günstigere) Alternative. Schliesslich überzeugte sein wuchtig-eleganter Bauvorschlag derart, dass gar keine Ausschreibung mehr erfolgte, und man die Brücke sobald wie möglich zu realisieren begann.

 

Willkommen im Simplonmassiv!
Willkommen im Simplonmassiv!

 

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Die Geschichte des Simplonpasses ist aber natürlich einiges älter. Führte er im frühen Mittelalter eher ein Mauerblümchendasein im Schatten des Gotthards und der Bündner Pässe, änderte dies schlagartig, als ein gewisser Kaspar Stockalper im Jahr 1640 ins Geschehen eingriff. Da die anderen Pässe aufgrund des Dreissigjährigen Krieges zu unsicher geworden waren, nutzte er die Gunst der Stunde, baute die Landstrasse durch das Wallis und den mittelalterlichen Saumweg über den Simplon aus – und zack, war er der King Pin der Alpentransversale. Ja sogar einen wöchentlichen Kurierdienst zwischen Genf und Mailand liess er einrichten, 200 Bauern der Region fanden so als Säumer ihr Auskommen, und Stockalper häufte ungeahnten Reichtum an; sein eindrückliches Schloss in Brig zeugt bis heute davon.

Um 1800 erlebte der Simplon dann eine weitere Blüte, als ihn Napoleon mit einer befestigten Strasse bebauen liess, welche solid genug zu sein hatte, damit er seine Kanonen über den Pass verfrachten konnte. Auch mit einigen Unterkünften und Schutzhäusern liess er den Simplon bestücken – wie dem bis heute stehenden Hospiz. Als schnellste Verbindung zwischen Paris und Mailand wurde der Simplon zu einem signifikanten Trumpf für den kleinen General. Derart bedeutungsvoll blieb der Simplonpass nicht immer, besonders die Eröffnung des Eisenbahntunnels 1906 setzte ihm merklich zu: Die Anzahl Reisender sank von 13’000 im Jahr 1905 auf gerademal 850 im Jahr 1907. Das erste Postauto überquerte den Pass übrigens 1919, seit 1968 findet der Postautobetrieb ganzjährig statt.

 

Das Hospiz kommt in Sicht...
Das Hospiz kommt in Sicht…

 

Nach 37 Minuten haben auch wir die Passhöhe erreicht und das riesige Hospiz (vielleicht ein alpines Zeugnis des – eben – Napoleon-Komplexes?) ist kaum zu übersehen! Auch sonst hat es hier oben gerade genügend Gebäude, Bergidylle geht irgendwie etwas anders. Davon abgesehen gefällt die Landschaft aber sehr: Hügelige Weiden, welche am nahen Horizont direkt in steile Felswände übergehen, das ganze gespickt mit tosenden Wasserfällen, ein paar verbliebenen Schneefeldern und sogar einem kleinen Seelein. Wirklich zauberhaft!

 

Passhöhe erreicht!
Passhöhe erreicht!

 

Simplon-Passhöhe mit dem von Napoleon in Auftrag gegebenen Hospiz
Das Simplon-Hospiz, in Auftrag gegeben 1801 von Napoleon, fertiggestellt 1831 durch die Augustiner-Chorherren des Grossen St. Bernhard

 

Im Gebiet der Passhöhe
Im Gebiet der Passhöhe

 

Dann folgt der Abstieg in Richtung Italien, via den Siedlungen Simplon-Dorf, Gondo und Iselle. Die Strasse windet sich durch die enge, steile und schattige Gondoschlucht, die fast undurchdringlich scheint. Doch auch diese Herausforderung haben Napoleons Strassenbauer angenommen, ein paar Galerien hingepfeffert und so der Schlucht ihren Schrecken genommen. Eine echte Meisterleistung, dieses Bauwerk!

 

Achtung, jetzt geht's nur noch runter!
Achtung, jetzt geht’s nur noch runter! Hoffentlich fangen unsere Bremsen kein Feuer 🙂

 

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Auf dem Simplonpass, mit dem 'Alten Spittel' erbaut 1650
Der alte Spittel, erbaut von Kaspar Stockalper im Jahr 1650

 

Noch etwas frische Bergluft schnuppern...
Noch etwas frische Bergluft schnuppern…

 

Die Gondoschlucht naht!
…bevor es in die Gondoschlucht geht

 

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Benvenuto in Italia!
Benvenuto in Italia!

 

Bei Gondo passieren wir den Grenzübergang. Der Fahrer informiert alle an Bord, dass fortan Gurten-Tragepflicht herrsche – das Gebot missachtende Touristen verwarnten die Carabinieri gerne mit einer Busse von 60 Euros, meint er. Und mir direkt sagt der Chauffeur, ich solle für einen Moment die Kamera weglegen, wenn ich bis nach Domodossola gelangen wolle – Fotos von ihren Grenzübergängen würden die Italiener nämlich ebenso wenig mögen, und mich vielleicht sogar hierbehalten.

Doch alles geht gut, wenige Minuten später sind wir auf der Autostrada in Richtung Mailand und können richtig Gas geben. Von 2’000 auf 300 Höhenmeter in kaum mehr als einer halben Stunde. Wahnsinn. Ein ganzes Land stünde jetzt offen, wir könnten beinahe endlos nach Süden weiterfahren. Florenz, Rom, Neapel – alles der Nase nach. Was wäre das für ein Erlebnis! Stattdessen nehmen wir schon die nächste Ausfahrt und das gelbe Postauto kommt wenig später vor dem Bahnhof von Domodossola zum Stehen – direkt neben den Bussen nach, eben, Mailand, Turin und Rom…hach, das Fernweh!

 

Die Autostrada bringt uns rasch weiter in Richtung Süden
Die Autostrada bringt uns rasch weiter in Richtung Süden

 

Wir passieren die herzigen Städtchen Roledo...
Wir passieren die herzigen Städtchen Roledo…
...und Oira
…und Oira

 

Wir erreichen Crevoladossola mit seiner historischen Kirche Santi Pietro e Paolo, und damit das Haupttal Val d'Ossola.
Wir erreichen Crevoladossola mit seiner historischen Kirche Santi Pietro e Paolo, und damit das Haupttal Val d’Ossola.

 

So gebe ich mich mit dem zufrieden, was ich habe – ein Ausflug nach Italien ist auch so ganz nett, und Domodossolas nicht mehr ganz taufrische aber dadurch nicht weniger charmante Altstadt gibt sich alle Mühe, mich zu begeistern. Einige prächtige Herrenhäuser zeugen vom Erbe der Handelsfamilien, welche es dank dem Simplon zu beträchtlichem Reichtum gebracht haben. Die Piazza del Mercato, wo seit Jahrhunderten ebendiese Güter und Handelswaren umgeschlagen werden, besticht mit mittelalterlichen Gebäuden und lauschigen Arkaden. Doch, hier könnte ich gerne länger verweilen und das dolce-far-niente geniessen.
Doch ich bin und bleibe Schweizer, meine Reisepläne sehen so etwas wie süsses Nichtstun einfach nicht vor. Nach nur zwanzig Minuten muss ich zurück zum Busbahnhof. Als letzte Amtshandlung in Italien erstehe ich am Bahnhofsbuffet (dem einzigen Verpflegungs-Laden, der heute Sonntag geöffnet zu haben scheint) einen aufgedunsenen, lieblos mit halbverdorrten Tomatenscheiben dekorierten Teigklumpen, den mir die Bedienung allen Ernstes als Pizza schmackhaft machen will, und den sie sich entsprechend fürstlich bezahlen lässt. Aber naja, vor den nächsten 100 Minuten Fahrt keimte halt leichte Hungerpanik auf…

 

Altstadtbummel in Domodossola
Altstadtbummel in Domodossola
Nicht mehr ganz taufrisch, aber durchaus nett :)
Nicht mehr ganz neu, aber durchaus nett 🙂
In den historischen Gassen unterwegs...
In den historischen Gassen unterwegs…
Domos herausgeputzte Seite :)
Domos herausgeputzte Seite 🙂

 

Domodossolas Piazza del Mercato
Die Piazza del Mercato

 

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Und dann, dreissig Minuten nach meiner Ankunft, sitze ich schon wieder im Postauto für die Rückfahrt nach Brig. Noch einmal abwechslungsreiche und interessante, aber irgendwann auch etwas lange anderthalb Stunden stehen bevor. Zum Glück gibt es Wikipedia und das Historische Lexikon der Schweiz, die mir nicht nur die Zeit vertreiben, sondern auch mein Wissen entscheidend bereichern. Wie etwa um den Fun Fact, dass Domodossola zwar nur rund 18’000 Einwohner zählt, damit aber trotzdem die grösste Stadt Italiens ist, deren Name mit einem «D» beginnt – und somit auf sämtlichen schulischen Buchstabiertafeln genutzt wird. Äusserst praktisch mit diesem langen Namen, momoll. Vielleicht dauert ja deshalb alles etwas länger hier…

 

Es geht zurück bergwärts...
Es geht zurück bergwärts…

 

Während ich so mit 4G Daten durch die Luft jage und mein Roamingguthaben aufbrauche, rauscht die geschichtsträchtige Passstrasse trotz der zu erklimmenden Höhenmeter nur so an mir vorbei: Iselle, Gondo, Simplon-Dorf, Alter Spittel, zack schon wieder das überdimensionierte Hospiz, und dann rasen wir auf der gut ausgebauten Nordrampe bereits wieder Brig entgegen. Der Retarder (Dauerbremse) hält den zickigen Löwen wunderbar im Zaum (immerhin dieses Teil des Busses funktioniert tadellos), und so nähern wir uns in einem kontrollierten gemächlichen Sinkflug wieder der Oberwalliser Metropole. Schon von weither ist ihr Wahrzeichen sichtbar, welches uns mit seinen drei markanten Türmen begrüsst: die bescheidene Heimat von Simplonkönig Stockalper natürlich, von wem auch sonst. Willkommen zurück in Brig!

 

Zurück im Wallis!
Zurück im Wallis!

 

Das Stockalperschloss von Brig, erbaut 1671
Das Stockalperschloss von Brig, erbaut 1671

 

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