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Von St. Gallen arbeite ich mich im knuffigen Solaris-Bus westwärts durch die Ostschweiz vor, suche den ominösen Pelagiberg und schlendere schliesslich durch Bischofszells prunkvolle Barock-Altstadt.
52: St. Gallen – Waldkirch – St. Pelagiberg – Bischofszell
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
120 | St. Gallen, Bahnhof | Engelburg, Dorfplatz | Neoplan N 4426/3 | 2005 | Casutt, Gossau | 0:16 | 6,0 |
133 | Engelburg, Dorfplatz | Waldkirch, Post | Solaris Urbino 8.6 | 2015 | Schmidt, Oberbüren | 0:14 | 8,8 |
154 | Waldkirch, Post | Arnegg, Bahnhof | Solaris Urbino 8.6 | 2015 | Schmidt, Oberbüren | 0:06 | 4,0 |
154 | Arnegg, Bahnhof | Waldkirch, Post | Solaris Urbino 8.6 | 2015 | Schmidt, Oberbüren | 0:06 | 4,0 |
154 | Waldkirch, Post | St. Pelagiberg, Kurhaus | Solaris Urbino 8.6 | 2015 | Schmidt, Oberbüren | 0:15 | 3,3 |
950 | St. Pelagiberg, Kurhaus | Bischofszell, Bahnhof | Solaris Urbino 8.6 | 2015 | Schmidt, Oberbüren | 0:15 | 6,1 |
English Summary:
From St. Gallen, the capital of eastern Switzerland, I start out to work my way westwards through the maze of different bus routes that are on offer. A last example of my beloved double-decker busses takes me to a suburb called Englesburg (translating to Angel’s Castle), which disappointingly doesn’t feature neither a castle nor any angles. Instead, a cute little Solaris Urbino bus is waiting to take me further out into the countryside. Passing extensive fields either populated by groves of apple trees or cow herds (both solid pillars of the local agricultural economy), we criss-cross back and forth through the farmland on our way west.
Finally, we pull into the town of Bischofszell, which was a historically important market place due to its strategic location at bridges over the region’s two main rivers. In medieval times, Bischofszell’s merchants built up an extensive trading network, shuffling textiles back and forth all around this part of Europe and accumulating quite a lot of wealth – to which the town’s neat baroque quarter is still testament. Today, the textiles are long gone and Bischofszell serves more mundane desires: It houses a major food production and canning facility for the country’s largest supermarket chain.
Es ist früh morgens, als ich mich am Bahnhof St. Gallen einfinde, um meine Schweiz-Tour per Postauto voranzutreiben. War der Reiseverlauf bisher in den Bergkantonen meist durch den Verlauf der Täler vorgegeben gewesen, sehe ich mich nun mit einer weitaus diffizileren Routenplanung konfrontiert. Über die Ostschweiz spannt sich nämlich ein dichtes und bisweilen chaotisches Netz von Postautokursen, in dem man sich gerne verliert. Während der Planung fühlte ich mich wie bei diesem beliebten Spiel aus Kinderbüchern, in welchem man einer Schnur gedanklich durch ein ganzes Chaos an Linien folgen muss, um schliesslich den Weg zur Prinzessin oder zur Schatztruhe zu finden – und nicht etwa bei der Bombe oder dem Schwarzen Loch zu landen. Derlei Perfiditäten erwartete ich in der Ostschweiz zwar nicht – doch je nachdem, wie erfolgreich ich die Route lege, kann ich die Lücken zwischen den Postauto-Netzen (und damit meinen Wanderaufwand) möglichst klein halten, und vielleicht sogar noch den einen oder anderen interessanten Ort einbauen.
Mit einem dicken Bündel an Fahrplänen, Zeitberechnungen und einer Tageskarte bewaffnet beziehe ich also Stellung am Bahnhof St. Gallen. Die erste Linie zu erwischen ist in diesem Pulk von gelben Bussen schonmal gar nicht so einfach, doch zum Glück sind sowohl Kursnummer als auch Destination leicht zu merken: Die 120 nach Engelburg sticht aber auch sonst gehörig heraus: Es naht nämlich, juhui!, nochmals ein Doppeldecker der Marke Neoplan! Dieser befindet sich in der Flotte von Garagen- und Postauto-Unternehmer Casutt aus Gossau.
Auch als der Motor gestartet wird und wir St. Gallens Bahnhofplatz verlassen, überrascht mich die Route: Statt wie erwartet durchs eintönige Stadtgebiet zu schleichen, bugsiert der Chauffeur seinen beräderten Koloss schon nach wenigen Minuten einen steilen Abhang hinunter und um eine enge Haarnadelkurve. Aaaaha – wer in die Burg der Engel hoch will, muss wohl erst gaaaanz unten beginnen. Nicht gerade in der Hölle, aber immerhin tief unten im düsteren Sittertobel, welches an diesem Morgen noch keinen Sonnenstrahl gesehen hat, und sich so mystisch eingenebelt präsentiert.
Kaum ist das Tobel durchquert geht’s steil aufwärts, wir erreichen nach wenigen Kurven die ersten Häuser von Engelburg und kommen kurz später auf dem ausladend grossen Dorfplatz zum Stehen. Gleich unterhalb des stattlichen Gotteshauses, welches hier einst gebaut wurde, weil den Kirchgängern der sonntägliche Marsch durch die Schlucht in die Kirchen der Stadt auf Dauer zu mühsam wurde. Man widmete die 1770 fertiggestellte Kirche den heiligen Schutzengeln, was schliesslich auch dem Dorf seinen Namen bescherte.
Für weiteres Googeln habe ich keine Zeit, schon öffnen sich nämlich die Türen meines Doppeldeckers, denn die Route ist hier bereits zu Ende. Ich trete erwartungsvoll nach draussen, doch statt lieblichem Engelsgesang oder wenigstens einer Gruppe feenhafter Grazien, welche Philadelphia-Brötchen knabbern, begrüsst mich nur eine eisig kalte Bise. Bäh, willkommen im Herbst!
Engelsgleich oder gar himmlisch ist hier wirklich nichts. Engel sind keine aufzuspüren und eine Burg gab’s sowieso nie, also rasch weiter. Wenigstens dieser Wunsch wird mir von den Augen abgelesen – flugs kurvt mein nächstes Postauto herbei. Ich übersehe es allerdings fast, so winzig ist das Ding – insbesondere im Angesicht des monströsen Neoplan-Doppeldeckers, den es hier trifft. Gestatten, ein Solaris Urbino 8.6. Gestellt wird das Fahrzeug von Postauto-Unternehmer Schmidt aus Oberbüren, gefahren allerdings von Angestellten des Postauto-Halters Mock aus St. Pelagiberg. Das trifft sich gut, denn dort will ich unter anderem hin.
So einfach ist das allerdings mit den Ostschweizer Linien nicht. Ich muss zwar in dieses vermaledeite St. Pelagiberg – zum einen, weil ich wissen will, was das für ein Berg sein soll, von dem ich noch nie gehört habe. Und zum anderen, weil es nur von da eine Verbindung nach Bischofszell gibt, nicht aber von den eigentlichen Nachbarorten Bischofszells selber (warum auch immer). Allerdings gibt es auch nicht einfach einen direkten Kurs von der Engelburg auf den Pelagiberg, obwohl die beiden nur 10 Fahrminuten oder 8 Kilometer auseinander lägen. Mein Weg führt daher erst 9 Kilometer nach Waldkirch. Dann lasse ich mich noch ein paar Kilometer weiter seitwärts nach Arnegg kutschieren, weil vom dortigen Bahnhof das Postauto nach St. Pelagiberg fährt. Das fährt zwar wieder via Waldkirch, aber ich will unbedingt am Beginn der Route einsteigen, um mir einen Platz in der ersten Reihe zu sichern – damit ich auch nichts vom ominösen Pelagiberg verpasse. Nach Passieren von St. Pelagiberg geht’s schliesslich noch 6 Kilometer weiter nach Bischofszell. Ist jemand gedanklich mitgekommen? Nein? Gut, ich auch nicht. Eingangs gäb’s sonst eine Karte, vielleicht hilft’s. Aber was soll’s – ich kann ja auch noch etwas kreuz und quer durch die Ostschweizer Pampa flitzen, wenn ich schon mal hier bin.
Immerhin geht dieser spritzige Zwergenbus im Vergleich zum Neoplan-Doppelstöcker ab wie eine Rakete, auch wenn er bei jedem Tritt aufs Gaspedal klingt wie ein übermotivierter Staubsauger, der sich inbrünstig im Operngesang übt. Das mit dem Staubsauger hat aber System: Auf einer gut sichtbaren Ablage im Fahrgastraum sehe ich nämlich tatsächlich einen kleinen Elektro-Staubsauger, einen Scheibenreiniger und weitere Putzutensilien, während an prominenter Stelle gleich bei der vorderen Eingangstür ein Wischmopp die Fahrgäste begrüsst. Ich hoffe inständig, dass meine Schuhe nicht derart dreckig sind, dass ich mitten während der Fahrt zu einem Putzeinsatz verdonnert werde – das mit dem «klein aber fein» scheint man hier ja wirklich seeehr ernst zu nehmen!
Dafür ist auch der ältere Chauffeur ein feiner Typ. Rasch kommen wir ins Gespräch, und er verrät mir, dass er in seinem angestammten Beruf eigentlich schon längst pensioniert sei. Er helfe aber schaurig gern aus, wenn im Postauto-Betrieb Not am Mann sei und ein Fahrer gebraucht werde (die Haupt-Ursachen dafür dürften in diesem Betrieb wohl sein, dass sich Stammfahrer beim Staubsaugen das Knie verdrehen oder auf einem feuchten Wischmopp ausrutschen). Durch das Busfahren halte er sich geistig und körperlich fit (na hoffentlich klappt’s!), komme unter die Leute, und erfahre stets als erster, was in der Region so passiert. Ein echter Busfahrer aus Leidenschaft, wie schön! Vielleicht hat mir die Burg ja doch noch einen Engel gesandt, auch wenn er nicht ganz die Masse eines Victoria’s Secret-Models besitzt.
Zur Strecke selbst gibt’s nicht viel zu erzählen. Hinter Engelburg wird die Szenerie sofort total ländlich und einigermassen idyllisch. Hier im Grenzgebiet zwischen der Viehwirtschaft der Ostschweiz und dem Obstanbau des Thurgaus (bekannterweise auch Mostindien genannt) können sich die Landwirte offenbar nicht so ganz entscheiden, was sie denn nun wollen: Mal glotzen mir Kühe entgegen, mal strahlen mich herbstlich gefärbte Apfelbäume an, und nicht selten sind beide vereint auf einer Weide anzutreffen. Auch die passierten Siedlungen Waldkirch und Arnegg brennen sich nicht ins Gedächtnis ein, der Unterschied zwischen ihnen besteht einzig darin, dass Waldkirch aus irgendwelchen Gründen den Bischof einer ecuadorianischen Grossstadt stellt (sagt zumindest Wikipedia), während Arnegg nicht einmal eine Kirche besitzt. Dafür verfügt Arnegg aber über einen S-Bahnhof und kann sich rühmen, Teil der Stadt Gossau zu…wäääh Stadt, schnell weg hier!
Kurz nachdem wir aus Arnegg Reissaus genommen haben, erreichen wir nun als Linie 154 endlich den herbeigesehnten Pelagiberg – oder ausgedeutscht, wie mich die lokale Webseite informiert, die Gemeinde der Priesterbruderschaft St. Petrus an der Wallfahrtskirche St. Pelagiberg. Jaja, man nimmt die Dinge ja bekanntlich sauber und genau hier! So ist denn auch die wuchtige Wallfahrtskirche, die von weither sichtbar auf dem St. Pelagihügel thront (ein Berg ist es nun also beim besten Willen nicht!) nicht einfach dem Märtyrer Pelagius gewidmet, der hier einst vorbeikam, sondern der Gottesmutter Maria. Die zieht offenbar mehr: Ein Gnadenbild von ihr sorgt seit Jahrhunderten für einen stetigen Pilgerstrom. So viele waren es gar, dass man schliesslich eine Pilger-Herberge baute, aus der mittlerweile das sogenannte Kur- und Exerzitienhaus Marienburg hervorgegangen ist.
Darunter konnte ich mir genauso wenig vorstellen wie ihr, aber die Webseite sorgt auch hier für Erleuchtung: Eine Schwesternschaft vom Orden des Kostbaren Bluts führt das Haus bis heute, und bietet Tagesgästen wie Daueraufenthaltern ein reichhaltiges Potpourri an Glaubensübungen an (worüber mich der Exerzitienplan 2017 detailliert aufklärt [momentan ist die Version 2020 online, aber die ist marginal weniger speziell]: Von Missionsexerzitien über Adventsexerzitien bis hin zu Sessionen mit Titeln wie «Was die Armen Seelen im Fegfeuer uns sagen», «Das Tugendbüchlein des heiligen Fidelis» und «Kostbar Blut macht alles gut!» ist für jeden Geschmack etwas dabei. Schüler und Studenten, deren Blut offenbar noch nicht ganz so kostbar ist, kriegen übrigens 25 Prozent Rabatt.
Nun ja, bevor mich vor lauter Gotteslästerung noch der Blitz trifft, mache ich mich schnell wieder aus dem Staub – auch wenn St. Pelagibergs Webseite mit einem versöhnlichen Passus endet: «Er ist ein Berg der Gnade, auf dem Sie immer willkommen sind!»
Sünde hin, Gnade her – binnen wenigen Minuten bringt mich der fröhliche Chauffeur-Rentner mit seinem Urbino wieder hinunter in irdische Sphären, und lädt mich schliesslich am Bahnhof Bischofszell aus, wo ich mich leider von ihm verabschieden muss. Stattdessen nehme ich mir eine Stunde Zeit, um die hübsche barocke Altstadt des Ortes zu erkunden – und mich an einem neuen Kanton auf meiner Reise zu erfreuen: Willkommen im Thurgau!
Bischofszell hatte sich schon früh das Stadtrecht erkämpft und war dann ein wichtiger Stützpunkt der Konstanzer Bischöfe, was ihm auch eine bischöfliche Burg bescherte – das heutige Schloss. Aufgrund seiner Lage an Brücken über die Flüsse Sitter und Thur fungierte Bischofszell aber seit jeher auch als zentraler Handelsposten. In dieser Tradition profitierte die Ortschaft auch vom Boom der Ostschweizer Textilindustrie und die hiesigen Kaufleute exportierten die Waren aus dem Umland in alle Himmelsrichtungen. Das liess natürlich auch die Porte-Monnaies der ansässigen Elite anwachsen und die Gemeindekasse klingeln, weshalb es sich Bischofszell leisten konnte, nach einem verheerenden Brand Mitte des 18. Jahrhunderts quasi die ganze Altstadt aus einem Guss wieder aufzubauen, aber die einstigen Holzhäuser durch teils prunkvolle Barockbauten zu ersetzen.
Heute sind es aber nicht mehr Textilien, sondern vor allem kulinarische Produkte, die von Bischofszell aus in alle Ecken der Schweiz geliefert werden: Seit die Migros die ehemalige Konservenfabrik der Stadt übernommen hat, ist diese einer ihrer wichtigsten Produzenten. Beschränkte man sich in der einstigen „Konservi“ noch darauf, Erbsen in Büchsen zu bugsieren, produziert Bischofszell heute von Fruchtsäften über Kartoffelchips bis hin zu Tiefkühlgemüse und Fertigmenüs so etwa alles, was man sich in den Mund stopfen kann. Pelati also statt Pelagi – Sündigen kann eben schon schön sein, auch in Sichtweite des strengen geistlichen Zentrums. Und wenn das Fressgelage zu sehr ausartet, ist ja vorsichtshalber in jedem Bus ein Wischmopp installiert. Wohl bekomm’s!
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