Lesezeit: ca. 7 Minuten
Vom dicht besiedelten und hoch industrialisierten Rheintal entführt mich das Doppeldecker-Postauto ins weitaus ländlichere, idyllische Toggenburg. Dort passiere ich den Geburtsort eines bedeutenden Schweizers, bestaune einen eindrücklichen Wasserfall und geniesse auf einem Berggipfel Architektur von Weltruhm.
49: Buchs – Werdenberg – Wildhaus – Unterwasser
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
790 | Buchs, Bahnhof | Unterwasser, Post | Neoplan N 4426/3 | 2003 | Regie | 0:46 | 18,7 |
English Summary:
Today’s episode takes us from the highly populated and industrialized Rhine valley up through the much more idyllic and laid-back Toggenburg region. A pretty long route, taking 1 hour and 40 minutes while covering (only) around 40 kilometers. Fittingly, leading us there is the largest bus on my whole trip: The Neoplan N 4426/3 double-decker. While it’s still a uniquely stylish way to ride, especially sitting right behind those large front windows on the upper deck, the ageing behemoth that was built in 2003 also shows its age: Its air-condition has never even bothered to take up the fight against today’s scorching summer heat (which, of course, mainly accumulates on the upper deck); and as we tackle the steep road that climbs out of the Rhine valley into the Toggenburg region, its weakish engine annoys the passengers and the motorists behind us alike.
At least this excruciatingly slow drive gives me plenty of time to say goodbye to the Rhine valley and enjoy a last glimpse of Liechtenstein bevor we head on to new territories. Thereafter, the Toggenburg region provides quite a contrast: Framed between the craggy peaks of the Churfirsten and the Alpstein mountain chains, we enter a lovely valley marked by rolling green hills and dotted by hundreds of isolated farm houses. Quite picturesque!
After having reached the valley’s highest point, we briefly stop in Wildhaus, a major destination for summer and winter tourism which is also the native place of one of Switzerland’s historically most influential persons; Huldrych Zwingly, who pressed on with the protestant reformation initiated by Martin Luther.
After leaving Wildhaus, we set course west again, in our undertaking to cross most of the Toggenburg valley. However, overheated and dehydrated after 45 minutes inside this rolling greenhouse, I decide to call it a day at the route’s halfway point and hop off the bus in the town of Unterwasser. Which isn’t a bad decision at all, because this gives me time to explore two of the town’s charming attractions: Firstly, the impressive Thur waterfalls, and secondly its Chäserugg mountain reached by cable-car – not only stunning visitors with its panoramic views but also with its newly-designed mountain restaurant, an arresting masterpiece of star architects Herzog & de Meuron.
Nach meinem Ausflug durch Liechtenstein bin ich zurück in der Schweiz, genauer im St. Gallischen Buchs. Dieses ist Ausgangsort einer der längeren Verbindungen im Postauto-Netz: 1 Stunde und 40 Minuten sind die Busse auf der Linie 790 unterwegs, 41 Kilometer legen sie dabei auf ihrer Fahrt quer durchs ganze Obertoggenburg bis nach Wattwil zurück. Für Postautos eine halbe Weltreise, und auch für mich eine Strecke, die mich gehörig weiterbringen wird.
Wegen der Hauptverkehrszeit wartet eine unglaubliche Menschenmasse an der Bushaltestelle gegenüber des Bahnhofs Buchs, doch das ist kein Problem. Gestatten, Auftritt eines weiteren Ostschweizer Kuriosums: des Neoplan-Doppeldeckerbusses, im Fachjargon N 4426/3. Auf seinen 12 Metern Länge finden 87 Personen einen Sitzplatz, dazu sind noch 45 Stehplätze im Angebot. Das sind nochmals ein paar mehr als beim Lion’s City DD, der mich durch Liechtenstein kutschiert hat, und so reise ich nun also im grössten Bus meiner Tour, und der Postauto-Flotte überhaupt.
Ich bin beim Einsteigen natürlich wieder besonders flink unterwegs, denn in den Doppelstöckern will ich nur einen Platz: Den in der ersten Reihe oben, vorne an der Frontscheibe, wo man elegant und aussichtsreich in der Giraffenperspektive durch die Lande gleiten kann, wie ein Kaiser in seiner Sänfte. Gleichwohl, der Kaiser hat einige Opfer zu bringen: An diesem Hitzetag hat sich das Oberdeck kräftig aufgeheizt (Wärme steigt ja bekanntlich…), und die nachmittägliche Temperatur-Spitze trifft genau mit der Feierabend-Zeit zusammen, zu welcher besonders viele Pendler (die ihrerseits auch kräftig Wärme abgeben, dazu eine ordentliche Portion Schweiss) in den Bus strömen. Die Klimaanlage des nicht mehr ganz taufrischen Postautos begleitet dieses dampfende Schauspiel derweil mit einem ausgelaugten Röcheln, ohne jeglichen erkennbaren Willen, wirklich nachhaltig Gegensteuer geben zu wollen. Wahrscheinlich hatte man bei ihrer Konzipierung 2003 noch nicht mit der Klimaerwärmung gerechnet…
Anyway. Erste Schweiss-Sturzbäche ergiessen sich also schon über Wangenknochen und Schlüsselbeine, als wir uns endlich in Bewegung setzen – und mir sofort ein weiterer Nachteil an meiner ach so kaiserlichen Sitzposition auffällt: Wir fahren die nächsten 90 Minuten allgemein gegen Westen, also genau in Richtung der nachmittäglichen Sonne – die nun im perfekten Winkel an die riesige Glasscheibe vor meinem Kopf brennt, und somit den Treibhauseffekt auf perfide Weise weiter befeuert. Rund um mich herum befindet sich derweil eine ehemalige Schulklasse, die es als Azubis in alle Ecken der Berufswelt gespült hat, und die nun freudig und lautstark ihre unverhoffte Zusammenkunft in diesem Höllenbus feiert. Manchmal frage ich mich ja echt, wieso ich mir das alles antue!
Dass ich so lange Zeit über Geräuschpegel und die bestialischen Auswüchse der Thermodynamik labern konnte ist aber auch Zeugnis für die (fehlende) Attraktivität der ersten 20 Fahrminuten. Im nervenaufreibenden Stop-and-Go mühen wir uns durch den zähflüssigen Abendverkehr des Buchser Ballungsraumes, dessen Nomination für einen Schönheitspreis eine ziemliche Sensation wäre. Kein Wunder: Buchs ist seit einigen Jahrhunderten das Schweizer Tor zum Osten – mehrere Rheinbrücken festigten diese Position genauso wie eine historische Fährverbindung nach Schaan oder der Anschluss an die österreichische Arlbergbahn mit Verbindungen bis nach Wien. Aufgrund dieser verkehrsgünstigen Lage haben sich im 20. Jahrhundert über 130 Gewerbe-, Industrie- und Speditionsbetriebe hier angesiedelt – der Killer fast jeder malerischen Landschaft. Einzige wunderbare Ausnahme: Das Kleinststädtchen der ehemaligen Grafschaft Werdenberg, dessen zwei Dutzend gut erhaltene Mittelalter-Gebäude sich am Ufer des malerischen Werdenberger Seeleins eng aneinanderschmiegen, während über ihnen das im 13. Jahrhundert errichtete Schloss thront.
Buchs und Werdenberg sind quasi nahtlos verbunden mit der Nachbargemeinde Grabs, einer ehemaligen Hochburg des Stickereihandwerks, die nun aber auch zahlreiche andere Industriebetriebe beherbergt. Grösste Arbeitgeber sind unter anderem ein weltweit führender Hersteller für Etiketten und Etikettiersysteme, sowie das regionale Spital – dessen Geburtenabteilung übrigens auch allen Liechtensteinerinnen dient, nachdem die letzte Geburtsklinik im Ländle im Jahr 2014 dicht gemacht hat (die NZZ titelte gewohnt trocken, trotzdem meine ich, darin den Hauch eines sarkastischen Untertons zu erkennen: «Frauen können nur noch im Ausland gebären»). Schliesslich passieren wir noch Gams, dessen Molkerei einer der grössten Emmentaler-Käse-Produzenten der Schweiz ist (obwohl 130 Kilometer vom Emmental entfernt…), und lassen dann das Rheintal mit all seinen Kuriositäten hinter uns – und glücklicherweise auch den Grossteil der pendelnden Fahrgäste, die inzwischen ausgestiegen sind. Vielleicht kühlt’s ja nun sogar etwas ab!
Auf der 1833 erbauten Passstrasse nehmen wir sodann Kurs auf das Toggenburg, was das Erklimmen von immerhin 600 Höhenmetern erfordert – eine ziemlich mühselige Plackerei für unseren schweren Doppeldecker-Brummer, und eine mindestens ebenso mühselige Schleicherei für all die armen Autofahrer in der stetig länger werdenden Kolonne hinter uns. Immerhin, so habe ich genügend Zeit, den prächtigen Rundblick übers Rheintal zu geniessen, bevor wir in die schattigen Engstellen des Simmitobels eintauchen.
Als der beschwerliche Kraftakt schliesslich vollbracht ist, präsentiert sich die Szenerie als Lohn dafür wie ausgewechselt. Eingebettet zwischen den wie Haifischzähne aufragenden Churfirsten zur Linken und dem fast ebenso schroff emporsteigenden Alpsteinmassiv zur Rechten, präsentiert sich eine ausserordentlich liebliche Tallandschaft, durchsetzt von hunderten kleineren und grösseren Hügeln sowie verziert von scheinbar tausenden Einzelhöfen. Willkommen im Toggenburg!
Am höchsten Punkt unserer Route, auf 1090 Metern über Meer, erreichen wir dann auch gleich das touristische Zentrum des Obertoggenburgs: Die Ortschaft Wildhaus, Sommer- wie Wintersportlern ein Begriff. In der warmen Jahreszeit zieht der 87 Kilometer lange Toggenburger Höhenweg die Wanderfreunde an, im Winter locken die 60 Kilometer Piste des lokalen Skigebiets. Bis 1949 verfügte dieses sogar über eine Schlittenseilbahn, eine Standseilbahn mit zwei auf Kufen hinauf- und hinabfahrenden Schlitten. Was es nicht alles gibt! Und dabei hatte ich doch gedacht, die Kuriositäten mit Verlassen des Rheintals hinter mir gelassen zu haben.
Doch Wildhaus hat noch mehr Kuriositäten auf Lager – offenbar hat das im Kanton St. Gallen irgendwie System. Mit 9658 hat Wildhaus nämlich die höchste Postleitzahl im Land, dafür hatte die Gemeinde bis 1939 kein eigenes Wappen. In dem Jahr befand die Eidgenossenschaft allerdings, dass für die kommende Landesausstellung jede Gemeinde ein Wappen bräuchte, weil eine Fahnensammlung aller Gemeindewappen geplant war (so sah das dann aus). So legte sich die Kantonale St. Galler Wappenkommission (die Behördenstelle scheint mir ja ein Kuriosum für sich zu sein, aber nun gut) sofort ins Zeug und beauftragte rasch einen Grafiker, der kurzerhand einen Steinbock auf einen Steinblock zwischen zwei Tannen setzte. Fertig war das Wappen. Immerhin, der Steinbock wuchs den Wildhausern in den mittlerweile siebzig Jahren seit dem heraldischen Schnellschuss derart ans Herz, dass sie bei einer kürzlichen Gemeindefusion mit Unterwasser und Alt St. Johann den Vorschlag eines neuen gemeinschaftlichen Wappens hochkant ablehnten, weil der vermaledeite Paarhufer darauf fehlte.
Wildhaus schenkte der Schweiz aber nicht nur sein lang ersehntes Wappen und die höchste Postleitzahl, sondern auch einen historisch wichtigen Gesellen: Huldrych Zwingli, der während seiner Schaffenszeit in Zürich nichts weniger als die reformierte Kirche gründete und die Reformation in weite Teile der Schweiz trug. Auch ins Toggenburg, das damit noch seine Probleme bekommen sollte: Das Tal, das unter der Herrschaft der katholischen Fürstabtei St. Gallen stand, trat bald zur Reformation über und erklärte sich für unabhängig – doch der Abt peitschte die Abtrünnigen nur wenig später wieder unter seine Fittiche zurück. Daraufhin verpflichtete er die Toggenburger sogar, für ihn in Fronarbeit eine Strasse über den Rickenpass in Richtung Zürichsee zu bauen – die perfekte Handelsverbindung zwischen dem katholischen St. Gallen und der ebenso katholischen Innerschweiz. Doch die reformierten Toggenburger rochen den Braten, verweigerten die Arbeit an diesem katholischen Bindeglied und zettelten so einen Glaubenskrieg an, der schliesslich die ganze Schweiz beschäftigte – ja gar europäische Ausmasse anzunehmen drohte.
Vom grossen kriegerischen Europa des Mittelalters zurück ins liebliche Toggenburg der Gegenwart: Nachdem wir auf dem Wildhauser Dorfplatz den Gegenkurs trafen, und die zwei Doppelstöcker im lieblichen Dorfkern während zehn Minuten ein Treffen der Giganten zelebrieren konnten, sind wir nun wieder talwärts unterwegs und nehmen Kurs auf das Dörflein Unterwasser. Dieses trägt seinen Namen ganz zurecht, liegt es doch überschwemmungstechnisch recht ungünstig am Zusammenfluss der Säntisthur mit der Wildhuserthur, die sich hier zur Thur vereinigen, welche dann später in einem weiten Bogen durch die Ostschweiz und in Richtung Züribiet fliesst – wir werden sie noch einige Male treffen.
Wasser, bzw. eher das Lechzen danach, ist auch für mich in meinem höllisch-heissen Treibhaus-Hochsitz ein gutes Stichwort – ich komme mir bereits vor wie ein gut gerösteter Thanksgiving-Truthahn, und der Wasserhaushalt ist definitiv im Keller (bzw. in Form von Schweissflecken auf dem Stoffbezug des Sitzes angelangt, äxgüsi vielmal). Ich beschliesse daher, dem hitzigen Treiben nach knapp der Hälfte der Fahrzeit fürs Erste ein Ende zu setzen, und steige in Unterwasser aus.
Das ist keine schlechte Entscheidung, denn Unterwasser bietet (neben dem Fakt, dass es der Heimatort von Skisprung-Doppelolympiasieger Simon Ammann ist) gleich zwei landschaftliche Attraktionen. Zum einen sind dies die Thurfälle, eine zweistufige Kaskade der Säntisthur. 23 Meter Fallhöhe überwindet das Wasser hierbei, ein ziemlich imposantes Schauspiel – und nur zehn Minuten vom Dorfkern entfernt.
Die zweite Attraktion beinhaltet etwas grössere Entfernungen, ist aber trotzdem nicht zu verachten: Erst mit der historischen Standseilbahn aus dem Jahre 1934, dann mit der nur unwesentlich moderneren Gondelbahn gelange ich von Unterwasser nicht nur übers Wasser, sondern auch zum allerletzten Mal auf meiner Reise über die 2’000-Meter-Marke hinaus: Auf den 2’262 Meter hohen Chäserugg, den östlichsten der sieben Churfirsten – wo mich das kürzlich eingeweihte Gipfelrestaurant der Architekten Herzog & de Meuron erwartet. Ein gewagt geschwungener Bau von 53 Metern Länge, der zeitgenössische Architektur gekonnt mit den urchigen Bauhölzern Fichte und Esche vereint.
Das Gipfelgebäude ist so quasi Teil eines lokalen Masterplans, zusammen mit anderen unkonventionellen Highlights wie einem Klangweg, einem Sagenweg oder dem Klangfestival (gründend auf der grossen musikalischen Tradition des Toggenburgs, in dem so viel musiziert und gejodelt werden soll, wie nirgendwo sonst im Kanton). Sie alle sollen dem auch schon als «Tal der Tränen» betitelten Toggenburg helfen, endlich sein etwas angestaubtes Image loszuwerden, und Anschluss an diejenigen Tourismus-Destinationen zu finden, welche den Sprung ins 21. Jahrhundert erfolgreicher gemeistert haben. Aber so einfach ist das Ganze nicht: Das ebenfalls grossspurig projektierte Klanghaus, ein «musikalisches und architektonisches Zentrum für Naturtonmusik mit einzigartiger Akustik», fand bei den Entscheidungsträgern wenig Gehör. Allerdings für einmal nicht, wie man vielleicht denken würde, bei den Dorfältesten hinten im Tal – obwohl sich diese ja bis 1939, als sie von der Eidgenossenschaft zu ihrem Glück gezwungen wurden, auch nicht vom Nutzen eines eigenen Wappens überzeugen konnten. Nein, diesmal blieb die Sache beim budgetbewussten St. Galler Kantonsrat hängen, dessen Rotstift das Klanghaus eiskalt zum Opfer fiel.
Stichwort Budget: Auch ich habe mein Zeitbudget für die heutige Lektüre bereits wieder erreicht – und werde den Rest der monumentalen Route 790 in der nächsten Episode abhandeln. Bis dann, und Grüsse vom Gipfel!
Leave a Reply