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Bevor ich das Engadin endgültig verlasse, mache ich Gebrauch von einer Besonderheit in der Gewaltenteilung des Engadiner ÖV-Systems und lasse mich von einem Postauto ins Netz von EngadinBus entführen. Hier entdecke ich eingebettet in die erhabene Landschaft einige schmucke Dörfer und beeindruckende Bauten.
42: Zernez – Zuoz – Chamues-ch: Eine Extrarunde durchs Oberengadin
Fahrt-Logbuch:
Linie | Von | Nach | Bus | BJ | Halter | Zeit | KM |
007 | Zernez, Staziun | Zuoz, Staziun | Mercedes-Benz O530 K Citaro | 2011 | Terretaz SA, Zernez | 0:28 | 17,0 |
007 | Zuoz, Staziun | Chamues-ch, Plaz | Mercedes-Benz O530 K Citaro | 2011 | Terretaz SA, Zernez | 0:10 | 5,6 |
007 | Chamues-ch, Plaz | Zernez, Staziun | Mercedes-Benz O530 K Citaro | 2011 | Terretaz SA, Zernez | 0:36 | 22,5 |
English Summary:
Having stayed in the village of Zernez for the night, I’m also back in the Engadin valley – probably the most famous of the whole region. That’s exactly why I want to discover a bit more of it before I head on. Unfortunately, bus services in the valley are handled by a local company called EngadinBus which isn’t connected to the PostBusses. However, there is one exception: One of the lines’ operation is (for whatever reason) shared by both companies, giving me the chance to undertake a little tour of the Engadin valley without cheating on by beloved yellow busses.
The route served by a boring Mercedes-Benz Citaro Bus starts in Zernez and serves half a dozen villages with strange names like S-Chanf, Cinuos-Chel or Chamues-ch. While I still have no idea about how they are pronounced correctly, I soon learn that they all display a wealth of buildings in the traditional regional architecture style. The picturesque scenery of the world-renowned Engadin valley only adds to this charm and so my little sidetrip turns into the very worthwhile detour I’d hoped. The perfect way of saying goodbye to this part of Switzerland before heading on!
Das letzte Postauto hat mich in Zernez abgeladen – für viele das Tor zum Nationalpark, für mich eher das Gegenteil: das Tor zur restlichen Schweiz. Von hier muss ich nur kurz über den Flüelapass in Richtung Davos hüpfen, dann das Prättigau hinabsausen, schon habe ich den riesigen Kanton Graubünden fertig durchquert und komme dem Ende meiner Schweiz-Tour bedrohlich nahe. Ein Gedanke, mit dem ich mich nur schwer anfreunden kann – und so klammere ich mich an jegliche Strohhalme, die etwas zusätzliche Reisezeit versprechen. Zudem lässt mich einfach der Gedanke nicht los, nur so wenig des Engadins gesehen zu haben – denn mit Erreichen von Zernez bin ich wieder in diesem vielleicht meistbeachteten aller Bündner Täler gelandet. Zu gerne würde ich dem Engadin auch noch meine Aufmerksamkeit schenken, doch ist das wie bereits in einer früheren Etappe erläutert, auf meiner Mission nicht ganz so einfach: Hier bestreitet nämlich die Firma EngadinBus das Grundangebot im ÖV, und die hat mit Postauto herzlich wenig zu tun.
Nach langem Suchen finde ich allerdings ein Schlupfloch! Die EngadinBus-Linie 7 zwischen Zernez und Chamues-ch wird seit einigen Jahren von beiden Unternehmungen gemeinsam betrieben (wieso auch immer). Hauptsächlich kommen zwar die EngadinBusse zum Einsatz – es gibt aber an den Werktagen drei bis vier Kurse täglich, die von einem Postauto gefahren werden.
Natürlich kann ich nicht den ganzen Tag am Bahnhof Zernez warten, bis statt einem rot-blauen endlich mal ein gelber Bus um die Ecke biegt. So mache ich mich auf die Suche nach dem lokalen Postauto-Unternehmer, und werde bei der Terretaz S.A. fündig. Gegründet wurde das Unternehmen 1928 durch den zugewanderten Walliser Erwin Terretaz. Dieser eröffnete erst eine Autogarage mit Tankstelle in Zernez, welche dank ihrer guten Lage an der Weggabelung zwischen Flüela-, Ofenpass und Engadin mit dem aufkommenden motorisierten Tourismus auch prächtig florierte. Erst als der Verkehr in den Kriegsjahren einbrach, musste Terretaz innovativ werden: Er kaufte flugs einen Lastwagen und begann, damit Früchte und Fisch aus Italien ins Engadin zu karren. Die Schneeräumung im Engadin sowie auf den nahegelegenen Pässen erledigte er ebenfalls noch. Dazu gründete er ein Beton- und Kieswerk, welches stetig weiter wuchs, mit dem Bau diverser Staumauern einige Grossaufträge verzeichnen konnte, und bis heute den wichtigsten Unternehmenspfeiler darstellt. Die grauen Terretaz-Lastwagen sieht man in der Region denn auch im Minutentakt vorbeirauschen, und im Winter werden den Brummis zusätzlich noch Schneeschaufeln angenietet, wodurch das traditionelle Räumungsbusiness ebenfalls weitergeführt werden kann. Postauto-Betreiber wurde man dagegen erst im Jahr 2003 – seither zeichnet man für den Betrieb der Lebensader quer durchs Val Müstair verantwortlich, die ich in der letzten Episode befahren habe. Und eben, man hift auch noch auf dem einen EngadinBus-Kurs aus.
Genau diesen Kurs betreffend frage ich bei Postauto-Betreiberin Terretaz SA per Mail nach, um zu erfahren, wann ich denn nun ein Postauto erwarten kann. Welch Überraschung, kaum zwei Stunden später finde ich die Streckenpläne in meinem digitalen Postfach. Na das ist ja super Service! Es stellt sich heraus, dass die Postautos genau zu den Schulzeiten fahren – morgens, mittags und abends (auch hier wieder: wieso auch immer). Da ich an dem Tag noch viel vorhabe, entscheide ich mich für den Bus, der offenbar auf die besonders eifrigen Streberchen abzielt: Abfahrt 07:12 Uhr am Bahnhof Zernez. Gäääähn. Dabei wäre mein Hotel in Zernez doch eine wirkliche Augenweide gewesen! Aber was sein muss, muss sein.
Gäääähn ist ein super Stichwort. Es wird nämlich 07:12, ja gar 07:15, und schliesslich 07:20 Uhr, ohne dass ein Bus auftaucht. Habe ich den Fahrplan falsch gelesen, oder wurde die Linie inzwischen eingestellt? Ungewissheit macht sich breit. Doch gerade, als ich mir überlege, vielleicht wieder ins warme Hotelbett zurückzukehren, kommt meine Fahrgelegenheit doch noch um die Ecke gerauscht: Gelb bemalt ist sie schonmal (juhui!), und dass es sich um einen Mercedes-Benz Citaro handelt, ist nur auf den ersten Blick enttäuschend: Immerhin ist meine letzte Begegnung mit einem dieser langweiligen Stadtbusse nun auch schon gut 20 Etappen her (Oberwald-Gelmerbahn, um genau zu sein), zudem handelt es sich erstmals um einen Citaro K, also die 10,5 Meter messende Kurzversion.
Neben den seltsamen Abmessungen des Citaros fällt mir aber noch eine zweite Besonderheit auf, nur kann ich es noch nicht festnageln. Der Chauffeur kommt meinen müden Hirnzellen zuvor: Er entschuldigt sich umgehend für die Verspätung und auch, dass er in Strassenkleidung Dienst tue, nicht in Postauto-Uniform (ah, das war’s!). Der eigentliche Fahrer habe offensichtlich verschlafen, und so sei er, der eigentlich beim Postauto-Betrieb im Büro arbeite, unvermittelt eingesprungen. Tja, flexibel muss man sein!
Auf geht’s also zur Rundfahrt durchs Engadin. Leider scheint auch die Sonne keine Frühaufsteherin zu sein, und so präsentiert sich dieses sonst so sonnige Tal noch recht wolkenverhangen und matt, als wir Zernez verlassen und zu unserer Aufholjagd auf den Fahrplan ansetzen. Wir folgen dem Lauf des Inns durch eine kleine Schlucht, überqueren ihn dann und gelangen schliesslich zum Strassendorf Brail – hier passieren wir nicht nur die Grenze zwischen Unter- und Oberengadin, sondern auch eine innerromanische Sprachgrenze: Vom Dialekt Vallader, wie er im Müstair und Zernez gesprochen wird, hin zum Putèr des Oberengadin. Als ils puters (“die Mehlbreier”) gelten die Oberengadiner auch ganz generell. Der Legende nach, weil in diesen höheren Lagen des Tals gar kein Getreide wuchs, aus welchem sich Mehl für das Grundnahrungsmittel hätte herstellen lassen – und die etwas elitären Oberengadiner daher immer ins verschmähte Unterengadin hätten absteigen müssen, um um etwas Mehl für ihren Brei zu betteln. Mit solchen Kosenamen haben sich die Engadiner Gemeinden übrigens ganz generell leidenschaftlich geneckt – die Zernezer galten als die “magliachognas”, die Hundefresser. Die Geschichte dahinter will ich gar nicht wissen!
Doch weiter im Text: Wir fahren weiter auf unserem grünen Plateau und erreichen bald Cinous-chel (die Buchstaben-Kombination s-ch ist eine weiter Eigenart des Oberengadiner Dialekts, und wird ausgesprochen wie “sch-tsch”). Eigenartig ist auch die Haltestellen-Situation in der Gemeinde: Während eigentlich nur der an der Hauptstrasse oben gelegene Bahnhof vom Bus bedient wird, können die Leute im etwas unterhalb gelegenen Dorfzentrum per Knopfdruck ein an der Hauptstrasse oben installiertes Blinklicht aktivieren – und dem vorbeifahrenden Chauffeur so signalisieren, er möge doch bitte ins Dorf hinabfahren. Natürlich bleibt uns auch dieser Umweg heute nicht erspart – die Verspätung aufzuholen, bleibt ein hoffnungsloses Unterfangen.
Kaum sind wir wieder auf der Hauptstrasse angelangt, folgt schon der nächste Umweg: Diesmal allerdings ein planmässiger, ins beschauliche Kirchendorf Chapella am Eingang zum Val Susauna (Übername “ils buzibaus”, die Schreckgespenster).
Wie überall auf der Route steigen auch hier ein paar Kinder zu – ich bin tatsächlich mitten im morgendlichen Schultransport gelandet. Während also der Lärmpegel im Bus kontinuierlich ansteigt, brausen wir weiter. Nächster Halt: S-Chanf. Wie man das ausspricht, wisst ihr nun vielleicht – oder es bleibt genauso ein Mysterium wie für mich.
Jedenfalls kann sich das einstige Säumerdorf (von hier ging’s über den Scalettapass nach Davos), das heute vor allem als Tor zum wildreichen Tal Val Trupchun beliebt ist, zurecht rühmen, einen wirklich schmucken Dorfkern zu haben. Glücklicherweise hat es auch eine Grundschule, und die lauten Dreikäsehochs stürmen bei deren Anblick enthusiastischer, als ich das für möglich gehalten hätte, aus dem Bus. Dafür steigt jemand neues zu: der eigentliche Fahrer steht wie ein begossener Pudel an der Haltestelle. Und das durchaus wörtlich: Für die Dusche musste die Zeit irgendwie reichen, fürs Haare Föhnen tat sie dies definitiv nicht mehr. Ein Problem, mit dem ich mich auch des Öfteren konfrontiert sehe. Ist so eine Morgenmuffel-Sache 🙂
Nach dem Fahrerwechsel geht’s nun auf die nächste Ortschaft zu: Zuoz. Das Ortsbild des 1400-Seelen-Dorfs gilt als das schönste im ganzen Oberengadin: Hier zeugen stolze Patrizierhäuser vom einstigen Reichtum, enge Gässchen entführen einem auf eine Entdeckungsreise durch die Geschichte. Der Bischof von Chur hatte einst im 13. Jahrhundert die hier ansässige Familie Planta zu den Kanzlern des Oberengadins gemacht – das gab Zuoz eine gewisse Vormachtstellung. Umso mehr profitierte Zuoz dann von Handel, Transport und der Eroberung des Veltlins im 16. Jahrhundert. Reichtum häufte sich an, und führte nicht nur zu einer wirtschaftlichen, sondern auch zu einer geistigen Blüte. Die einstigen Bauern transformierten ihre Wohnsitze in stattliche Herrenhäuser, es wurde eine Lateinschule gegründet, und eine Dichter- und Theaterkultur etablierte sich, welche auch die Erschaffung einer rätoromanischen Schriftsprache vorantrieb.
Mit dem Verlust des Veltlins und der Aufhebung seiner diversen Vorrechte 1798 entwickelte sich Zuoz wieder zu einem einfachen Bauerndorf zurück. Doch nicht für lange. Bald erschlossen die Fahrstrassen über Albula und Flüela das Engadin, 1903 und 1913 wurden Strecken der Rhätischen Bahn eröffnet. Zuoz reagierte rasch, positionierte sich als Luftkurort, gründete diverse Schulen für die Jugend des Tals sowie das Lyceum Alpinum, ein europaweit bekanntes Internat.
Glücklicherweise wird die Postauto-Linie hier am Bahnhof Zuoz unterbrochen: Der Plan sieht vor, dass der Fahrer von hier kurz zurück zum Nationalpark-Eingang bei S-Chanf fährt, um die mit dem ersten Zug aus Chur oder St. Moritz angekommenen Touristen raus in die Natur zu bringen. Mir gibt dieser Extradienst dafür 20 Minuten Zeit, um durch Zuoz’ Dorfkern zu wandern und die architektonischen Highlights zu bestaunen, bevor die Reise weitergeht.
Pünktlich um 08:10 ist mein Fahrer dann mitsamt Postauto zurück, und wir können gemeinsam weitere Teile des Oberengadins erkunden. Lange dauert das Vergnügen allerdings nicht mehr. Wir durchfahren das etwas unscheinbare Strassendorf Madulain (die kleinste der sieben Gemeinden des Oberengadins) und treffen dann schon in La Punt ein. Das Dorf an der Brücke über den Inn (daher der Name) war lange Zeit ein gut frequentierter Knotenpunkt verschiedener Handelswege – davon zeugen auch heute noch einige stattliche Bauten.
Gleich auf der anderen Seite des Inns erreichen wir schliesslich Chamues-ch, dessen Charakter eher etwas einfacher und bäuerlicher geblieben ist. Hier ist schliesslich auch die Route zu Ende, und mir bleibt nichts Anderes übrig, als den Mittagskurs abzuwarten und mit diesem den Rückweg nach Zernez anzutreten.
Wenigstens hat sich auf den Mittag hin die Sonne durch die morgendlichen Nebel- und Quellwolken gekämpft, und lässt das erhabene Engadin in seiner vollen Pracht erstrahlen – von den grünen Hängen über den türkisen Inn bis zu den schmucken Dorfkernen, die wir durchfahren. Très joli!
Ansonsten ist die gut halbstündige Fahrt ziemlich ereignislos und ich bin gedanklich schon in Zernez, wo die nächste Etappe startet. Da biegen wir plötzlich bei Brail in eine Wendeschlaufe ein, der Chauffeur zieht die Handbremse und schaltet den Motor aus. Was ist denn jetzt los? Tja, das klärt sich in einem kurzen Gespräch sehr schnell: Ich habe in meiner Leichtfertigkeit angenommen, der Bus würde bis Zernez durchfahren, und daher die internen Routenpläne in meinem E-Mail-Postfach nicht mehr beachtet. So übersah ich den kleinen Haken: die Fahrt wird hier in Brail für eine Stunde unterbrochen. Das dient nicht nur dem Fahrer als Mittagspause – der Bus kann so bei der Weiterfahrt um 13:20 Uhr gleich die Brailer Kinder zurück nach Zernez in den nachmittäglichen Schul-Unterricht befördern. Eine Stunde Wartezeit in der überschaubaren Gemeinde Brail – zum Glück habe ich ein gutes Buch dabei…:-)
So habe ich also genügend Zeit, das erhabene Engadin noch etwas auf mich wirken zu lassen. In der nächsten Episode geht’s dann weiter über den Flüelapass nach Davos.
6 Responses
Claudia Zellweger
Eben habe ich via BZ-Basel Ihre Webseite entdeckt und mir die Fahrt von Zernez nach La Punt-Chamues-ch angeschaut. Zu meiner grossen Freude stiess ich da sogar auf ein Bild der Chesa Albertini in La Punt. In diesem wunderschönen Haus ist nämlich mein Vater (Jahrgang 1906) aufgewachsen.
Mit freundlichen Grüssen
Claudia Zellweger-von Albertini
Tis
Liebe Frau Zellweger
Vielen herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Es freut mich, wenn ich Ihnen eine Freude machen konnte! Die Chesa Albertini ist aber auch wirklich ein wunderschönes Haus, welches mir sehr gefallen hat!
Adelaidean
I have so enjoyed following your journeys.
We have loved our holidays in the Upper and Lower Engadin, and you have given us ideas for future trips.
In fact, we should have been back in Switzerland today, but sadly, not to be, consoling myself by visiting your blog.
I love the Engadin architecture, and the charm of those villages, and the landscape is enthralling. Thank you (from Australia).
Tis
Thank you very much for taking the time to write such a lovely comment! Of course I enjoy hearing that I was able to bring you a (virtual) piece of Switzerland all the way to Australia, while real travels are still impossible. The architecture and the villages of the Engadin valley are very charming and special indeed, so you definitely selected a nice region to visit. And maybe I could even inspire you to visit another part of our country the next time :-). Should you need any tips, just let me know! Best regards, Tis
Walter Grimm
Allegra bun di…
Wieso in die weite Welt, wenn es hier ja so Wunderschön und historische Gebäude etc. zum Verlieben hat…
Einfach mal Ferien hier buchen und verliebt ins Tal immer wiederkehren… zu jeder Jahreszeit ein voller Genuss und bleibende, gute Erinnerungen und Erlebnisse…
Viva L’Engiadina
Walter
Tis
So ist es! Vielen Dank für den lieben Kommentar!